Die germanische Mythologie

Die nordische Mythologie, so wie sie uns in der Edda (Sammlung germanischer Götter- und Heldenlieder) überliefert ist, entstand zum Großteil in den noch heidnischen skandinavischen Ländern, überwiegend auf Island. Es gibt allerdings auch einige Hinweise, auf christliche Einflüsse (z. B. Hel als höllenähnliche Unterwelt). Diese wurden zur Zeit der Niederschrift (um 1200 n. Chr.) von den bereits missionierten Dichtern eingestreut bzw. entstanden während der Zeit der Christianisierung.
Leider gingen durch den „Eifer christlicher Missionare“ so gut wie alle mündlichen Überlieferungen der südgermanischen Mythologie verloren. Im großen und ganzen kann man aber davon ausgehen, daß die verschiedensten germanischen Stämme mehr oder weniger identische Mythen ihr Eigen nannten. Gerade die germanischen Schöpfungsmythen dürften die ältesten Überlieferungen darstellen, weil das Szenario von der Entstehung der Welt stark an die Vorkommnisse während der letzten Eiszeit erinnern. Womöglich entstanden aus den Erinnerungen der Urahnen der germanischen Völker an diese schlimme Zeit die ersten Fragmente der heutigen germanischen Schöpfungsmythologie.

 

Die nordgermanische Schöpfungsmythologie

Über die Entstehung der Welten wird in der Völuspa der Älteren Edda und im Gylfaginning der Jüngeren Edda berichtet:
 

Am Anfang gab es nur Ginnungagap (AN mit Kräften/Magie erfüllter Raum), das man sich als Schlucht des Nichts und der Windstille vorstellte.
Im Süden von Ginunngagap entstand später Muspelheim (AN Reich des Muspel => Der Feuerriese Muspel (=Surtur) herrschte über diese Welt.), die Welt des Feuers und der Hitze.
Nach Muspelheim entstand nördlich von Ginnungagap Niflheim (AN Nebelwelt), die Welt des Nebels und des Eises, wo Finsternis und Kälte herrschten.
Im Zentrum von Niflheim befindet sich der Brunnen Hvergelmir (AN brodelnder Kessel). Aus dieser Quelle entsprangen 12 Flüsse, die alle zusammen Elivagar genannt werden. In der Urzeit überfluteten diese Wassermassen Niflheim bis sie zu Eis erstarrten. Dabei legte sich eine Eisschicht über die andere, bis sogar Ginnungagap erreicht wurde (Hinweise auf Eiszeit?!). Seitdem lagen im Norden von Ginnungagap große Eis- und Schneemassen, wo Stürme wüteten. Der südliche Teil von Ginnungagap wurde von den Feuerfunken, die von Muspelheim herüberflogen, erwärmt, wodurch das Eis im Norden zu schmelzen begann. Aus den Tropfen des geschmolzenen Reifs bildete sich der Urriese Ymir (AN Zwitter ?!) und die Urkuh Audhumbla (AN die Milchreiche) taute aus dem Eis auf. Ymir ernährte sich von Audhumla’s Milchströmen. Danach fiel er in einen tiefen Schlaf. Während Ymir schlief, entstand aus dem Schweiß seiner linken Achselhöhle ein männliches und ein weibliches Riesenwesen und durch das Aneinanderreiben seiner Füße entstand ein Sohn. Dieser, genannt Vafthrudnir, galt als Stammvater des Geschlechts der Hrimthursar (AN Frost- oder Reifriesen).

Audhumbla schleckte das salzige Eis als Nahrung, weil es noch kein Gras zum Fressen gab. Durch das Lecken setzte sie den Urriesen und Stammvater der Götter Buri (AN Erzeuger, Vater) aus dem Eis frei. Buri zeugte aus sich selbst den Riesen Bör (AN Sohn, Geborener). Bör wiederrum zeugte mit der Riesin Bestla (AN Baumrinde) drei Söhne - Odin, Vili und Ve, die ersten göttlichen Asen. Bör und Bestla sind folglich Urvater und Urmutter der Götter. Bestla, Tochter des Hrimthursen Bölthorn, war aus dem Geschlecht der Reifriesen, das aus Ymir hervorging. Sie galt jedoch als besonders friedliebend, ganz im Gegensatz zu den sonst bösen, zerstörerischen Reifriesen.

Die drei Brüder Odin, Vili und Ve erschlugen den Urriesen Ymir und in den Fluten seines Blutes ertranken alle Reifriesen bis auf Bergelmir und seine Gemahlin, die sich in einem Boot retten konnten (christl. Einfluß -> Arche Noah ?). Aus dem Riesenpaar ging später das neue Reifriesengeschlecht hervor.
Die drei Brüder legten Ymir ins Zentrum von Ginnungagap und schufen aus seinem Körper die Welt: Aus seinem Blut machten sie das Weltmeer, aus seinem Körper die Erde, aus seinen Knochen die Berge, aus seinen Haaren die Bäume und aus den Zähnen und Knochensplittern Steine und Felsen. Aus den Maden in Ymir’s verrottendem Körper schufen sie die Zwerge. (Nach einer anderen Version wurden sie aus Brimirs Blut und Blains Gliedern geschaffen.) Aus seinem Schädel machten sie das Himmelsgewölbe mit Hörnern an den vier Ecken. Sie hoben ihn hoch und setzten je einen Zwerg unter jedes Horn, damit diese das Gewölbe halten konnten. Die vier Zwerge sind nach den vier Himmelsrichtungen benannt worden: Austri (Osten), Westri (Westen),  Nordri (Norden) und Sudri (Süden). Anschließend nahmen die drei Brüder Feuerfunken aus Muspelheim und hefteten sie als Gestirne an den Himmel - anderen wurde erlaubt, sich am Himmel frei zu bewegen.

Um die Tag- und Nachtphase festzulegen erhielt der Gott Dag (AN Tag) und seine Mutter, die Jötun-Riesin Nótt (AN Nacht), jeweils einen mit Pferden bespannten Wagen von den Göttern. Mit diesen fahren sie im Abstand von einem Tag um die ganze Welt. Dadurch bestimmen sie den Beginn bzw. das Ende von Tag und Nacht.
Der Riese Mundilföri wagte es, seine Tochter Sol1) (AN Sonne) und seinen Sohn Mani (AN Mond) mit den Göttern gleichzusetzen. Als Strafe wurden die beiden von Odin in den Himmel versetzt, wo seitdem Sol den Sonnenwagen und Mani den Mondwagen über das Himmelsgewölbe lenken, um die Erde zu erhellen. Die beiden Wagen schufen die Götter aus zwei größeren glühenden Brocken aus Muspelheim. Mani wird vom Wolf Hati (AN Verächter) verfolgt. Immer wenn er dem Mondwagen zu nahe kommt, entsteht eine Mondfinsternis. Analog dazu wird Sol vom Wolf Sköll (AN Spott) verfolgt, wobei sich die Sonne verdunkelt, wenn er ihrem Wagen zu nahe kommt.

Die Erde war kreisrund und vom Meer umgeben. Das Land an den Küsten im Osten wird Jötunheim genannt und ist das Reich der Riesen. Zum Schutz vor den zerstörerischen Kräften der Thursen2) bauten die Götter einen Wall aus Ymirs Augenbrauen kreisrund um Midgard (AN Mittelerde). Midgard lag im Zentrum aller anderen Welten und sollte die Wohnstätte der Menschen werden. Nachdem dies alles geschaffen war, nahmen die drei Brüder Ymirs Gehirn und warfen es in den Himmel, woraufhin die Wolken entstanden sind.

Die ersten Menschen Ask (AN Esche) und Embla (AN Ulme) wurden von Odin, Hönir (= Vili: AN Wille) und Lodur (AN der Lodernde = Ve) aus zwei Bäumen geschaffen, die vom Meer an den Strand geschwemmt wurden. Odin gab ihnen als Luftgott Atem, Leben und Geist. Hönir gab ihnen als Wassergott klaren Verstand und Gefühl. Lodur gab ihnen als Feuergott das warme Blut, das blühende Aussehen, die Sprache und das Gehör. Ask und Embla bewohnten Midgard und aus ihnen ging das ganze Menschengeschlecht hervor. Auffallend im Vergleich zu Mythologien anderer Kulturen ist an der nordischen Version, daß die Menschen aus bereits lebendigem Material (Bäume) geschaffen worden sind.
 

 
Yggdrasill - die Weltesche

Es heißt in der Edda, Yggdrasill sei „der erste der Bäume“ - über seine Entstehung steht jedoch nichts geschrieben. Yggdrasill steht im Zentrum von Midgard und verbindet alle 9 Welten. Die 9 Welten sind in der nordischen Kosmologie auf drei Ebenen verteilt vorzufinden. Hierbei handelt es sich nicht unbedingt um eine „geographische“ Aufteilung anhand der Beschreibungen in den Schöpfungsmythen, sondern vielmehr um eine Schematisierung der germanischen Vorstellung vom Zusammenspiel des Kosmos: (Die strenge Unterteilung in Himmel und Hölle ist wohl auf christliche Einflüße zurückzuführen. Ursprünglich befand sich z. B. Walhalla in der Unterwelt und die Götterburg Asgard wurde auf Midgard erbaut.)
 
 
1. Ebene („Himmel“): 
Asgard: Sitz der Götter, Wohnort der Asen 
Vanaheim3): Wohnort der Wanen 
Ljossalfheim: Wohnort der (Licht-)Alfen4) 

2. Ebene („Erde“): 
Midgard: Welt der Menschen im Zentrum aller anderen Welten 
Jötunheim: Reich der Riesen (im Osten) 
Svartalfheim: Wohnort der Dunkel-Alfen, (Zwerge) - unterirdisch 
Muspelheim: Reich des Feuers bzw. der Feuerriesen (südl. Midgard) 

3. Ebene („Unterwelt“): 
Hel(heim): Reich der Totengöttin Hel (Tochter Lokis) 
Niflheim: Reich des Nebels, Eises 

Der Weltenbaum Yggdrasill
 

Bei näherer Betrachtung stellt man fest, daß die Welten immer Gegensätze bilden, Muspelheim - Niflheim (Feuer - Eis), Asgard - Hel (Himmel - Hölle), Ljossalfheim - Svartalfheim (Hell - Dunkel) und Vanaheim - Jötunheim (Friede - Zerstörung) übrig bleibt einzigartig Midgard im Zentrum, wo die restlichen 8 Welten aufeinandertreffen. Folglich ist in Midgard quasi „alles möglich“.

„Diese Esche ist der größte und beste von allen Bäumen: seine Zweige breiten sich über die ganze Welt und reichen hinauf über den breiten Himmel. Drei Wurzeln halten den Baum aufrecht, die sich weit ausdehnen: die eine zu den Asen, die andere zu den Hrimthursen, wo vormals Ginnungagap war; die dritte steht über Niflheim, und unter dieser Wurzel ist Hvergelmir, und Nidhöggr nagt vonunten auf an ihr. Bei der anderen Wurzel hingegen, welche sich zu den Hrimthursen erstreckt, ist Mimirs Brunnen, worin Weisheit und Verstand verborgen sind. ..... Unter der dritten Wurzel der Esche, die zum Himmel geht, ist ein Brunnen, der sehr heilig ist, Urds Brunnen genannt: da haben die Götter ihre Gerichtsstätte, ...“

(Ausschnitt aus dem Gylfaginning)

Außerdem sitzen die drei Nornen / Schicksalsgöttinnen (AN Raunende) Urd (Vergangenheit), Verdandi (Gegenwart) und Skuld (Zukunft) an Urds Brunnen. Dort bestimmen sie das Schicksal aller Lebewesen.
Auf der Spitze des Baumes sitzt der Jötunn-Riese Hräswelgr in Gestalt eines Adlers. Wenn er mit seinen Flügel schlägt, entsteht der Wind.
 

Das Eichhörchen Ratatöskr läuft ständig am Stamm des Yggdrasill entlang zwischen dem Adler und dem Drachen Nidhöggr (AN Neiddrache) hin und her. Es galt als Sinnbild der ewigen Streitigkeiten zwischen den Menschen, weil es immer Zwietracht zwischen den beiden sät, indem es jeweils dem einen erzählt, was der andere schlechtes über ihn erzählt hätte.

Wenn der immergrüne Lebensbaum zu welken beginnt, ist dies die Ankündigung von Ragnarök (AN Weltuntergang). Unter den Menschen herrscht Grausamkeit und moralischer Verfall. Darauf folgt eine Eiszeit und die alles vernichtende Endschlacht, bei der alle Götter und Menschen sterben werden. Nach einer langen Zeit wird die Welt neu entstehen. Der Lichtgott Balder wird zurückkehren und alle Wesen werden in Frieden miteinander leben.
 

 
Der erste Krieg

Um an den Reichtum der Wanen zu gelangen, begannen die kriegerischen Asen den allerersten Krieg, der erst endete, als die beiden Göttergeschlechter ewigen Frieden schlossen, indem sie Geißeln austauschten.
Wahrscheinlich wurde hier ein geschichtlich bedeutendes Ereignis im Mythos verarbeitet: Nach der Entmythologisierung stellt man fest, daß es sich bei den Asen im Grunde um kriegerische indogermanische Stämme und bei den Wanen um die bäuerliche  germanische Urbevölkerung handelt. Zwischen denen etwa 2000 v. Chr. ein realer Krieg herrschte. Auch damals wird der Friede durch Heirat zwischen Angehörigen der zuvor verfeindeten Stämme gesichert worden sein. Nach der Vermischung der germanischen Urbevölkerung mit den indogermanischen Stämmen überwog nach und nach die Verehrung der eher kriegerischen Götter der Indogermanen, eben der Asen als der friedlichen Wanen. Wahrscheinlich aus dem ganz einfachen Grund, weil sich die indogermanischen Religionsvorstellungen durchsetzten und die der Urbevölkerung mehr oder weniger in den Hintergrund drängten. So ist es z. B. auch auffallend, daß die Herkunft der Wanen in den altnordischen Quellen nicht näher beschrieben wird.
Eine andere Theorie verweist jedoch auf den sozialen Konflikt zwischen den Herrschenden und dem einfachen Volk. Erst nach dem Friedensschluß zwischen diesen beiden Gruppen war ein Leben in einer geordneten Gesellschaft möglich geworden.
 

 
Anmerkungen

1) Die Verehrung einer Licht und Wärme spendenden Sonnengöttin als Personifikation der Sonne läßt sich bis in die Bronzezeit zurückverfolgen.

2) An dieser Stelle ist es vielleicht notwendig, anzumerken, daß man die „Riesen“ eigentlich in verschiedene Arten unterteilen kann:
Die Jötunen, auch genannt Etins, stellen sich entweder auf die Seite der Götter oder wenden sich zusammen mit den Thursen gegen sie. Oft besitzen die Jötunen ein enormes Wissen und verfügen über Zauberkräfte. Die Körpergröße spielt bei den Jötunen keine entscheidende Rolle. Ein gutes Beispiel für einen Jötun wäre z. B. der bösartige, aber hochintelligente Gott Loki, Sohn des Riesen Farbauti. (Loki wird den Weltuntergang Ragnarök heraufbeschwören.)
Zusätzlich gibt es noch das Geschlecht der Thursen, die man sich als riesengroß, zerstörerisch und allgemein als dumm vorstellte. Ihre Bosheit treibt sie zu Handlungen, die den Menschen und Göttern oft schaden. Zu den Thursen zählen die Eis-, Stein-, Wasser- und Feuerriesen: Verkörperung der Naturgewalten.

3) Wahrscheinlich stellten sich die Germanen Vanaheim als Reich im Erdinneren vor, die Wanen sind ja auch Erdgottheiten. Hier ist Vanaheimr in die erste Ebene gesetzt, da es letzlich auch ein „himmlischer“ Wohnort von Göttern ist.

4) Licht-Alben (= Alfen/Elfen) sind geisterhafte, schöne Lichtwesen mit großer Weisheit. Sie sind den Menschen gegenüber freundlich und hilfsbereit und stehen den Göttern nahe. Dunkel-Alben hingegen sind pechschwarz, leben unter der Erde und sind eher bösartig gesinnt. Die Dunkel-Alben werden oft auch mit den Zwergen in Verbindung gebracht. Eine weitere Vorstellung war, daß es sich bei Elfen um die Seelen der verstorbenen Ahnen handelt.

AN: altnordische Übersetzung oder Bedeutung
 

 

Stammbaum der nordischen Gottheiten
Stammbaum der nordischen Gottheiten

 
Literaturhinweise
 
Die Edda, (Übersetzung v. Karl Simrock), Manfred Stange (Hrsg.), Bechtermünz Verlag
Edda, (Übersetzung v. Felix Genzmer), Max Thalmann, Eugen Diederichs Verlag
Herder Lexikon / Germanische und keltische Mythologie, Herder Verlag
Lexikon der germanischen Mythologie, Rudolf Simek, Kröner Verlag
Lexikon der Mythologie, Gerhard J. Bellinger, Bechtermünz Verlag
Runenkunde, Edred Thorsson, Urania Verlag

 
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