Schreckliche Alptraume eines erwachsenen Kindes

1989 sorgte eine Romanpremiere in den USA für Aufsehen. «Die Geschichte der leuchtenden Bewegung» liegt nun in einer deutschen Uebersetzung vor. Ein schrecklich faszinierendes Buch.

Scott Bradfield schreibt an der Grenze zwischen Wirklichkeit und Vision. Das macht seine «Geschichte der leuchtenden Bewegung» so unheimlich und gleichzeitig so spannend. Bradfield zeichnet in seinem Romanerstling eine Kinderwelt, die nichts Kindliches mehr hat. Er schildert die alptraumhaften nen eines Kindes, das nicht erwachsen werden will, weil es eigentlich schon erwachsen ist.

Schrecklicher Alleskönner

Philipp ist zwar erst acht, aber gebildet ist er wie die Abgänger verschiedener Universitätsfakultäten zusammen. Er zitiert Hegel und Wittgenstein, leiert Einsichten der Quantenphysik und der Biochemie herunter. Zusammen mit seinen schon zwolfjährigen Freunden Rodney und Beatrice, die sich detailliert den Kapitalismus und dem Hexenkult, bzw. dem Feminismus und dem Kommunismus verschrieben haben frönt Philipp auch den Drogen, den Sex, dem Okkultismus und kriminellen Lastern.Schon jetzt ist Philipp bestens bereitet für all die Berufe und Berufungen, welche seine Mutter ihn offenhält: «Du kannst», sagt sie ihm, «Medizin studieren. Du kannst Rocksänger werden. Du kannst Schauspieler werden oder irgendwo Vizepräsident. Du kannst Drogenhändler oder Zuhälter werden. Du kannst Homosexueller werden oder Killer auf Bezahlung. Es ist dein Leben, Schatz, und du kannst es leben, wie du es für richtig hältst. Ich werde dich immer lieben, ganz gleich, was geschieht. Du bist unbefleckt. Du überdauetstJahrhunderte ohne Zahl. Du bestehst in einer Welt der reinen Schwerkraft und des Schalles. Du bist wie Licht, mein Schatz. Du bist wie ein See aus Luft. Du bist Geschichte, und die gesamte Geschichte verwandelst du» Angesprochen wird hier «Die Geschichte der leulchtenden Bewegung», der geheimnisvolle Titel von Bradfields Buch. Eine Bewegung, die nirgendwo hinführt, obwohl sie auf den Autobahnen von Südkalifornien beginnt. Und ein Leuchten, das sich von den Scheinwerfern anderer Autos zu den Suchkegeln der Polizei wandelt, nachdem es immer auch das Irrlichtern in der Psyche der altklugen Kindermonster bezeichnet hat.

Kindhafter Ödipus

Wohl fühlt sich Philipp nur, wenn er allein mit seiner streunenden Mutter auf dem Highway unterwegs ist, von Motel zu Motel, von Mann zu Mann, doch als Mam sich nicht mehr länger prostituiert, keine Kreditkarten mehr klaut, sondern sesshaft wird, da entwickelt sich Philipp zum Vatermörder. «Woher sollte ich wissen, was real war und was nicht?» fragt Philipp selber. Ähnlich geht es dem Leser und der Leserin, die von realistischen Schilderungen und einem intellektuellen Studenten-Diskurs hineingezogen werden in eine Geschichte, die doch nur ein entsetzlicher Traum sein kann.

Der Wirklichkeit abgeschaut

Auch Schreckensträume haben freilich ihren Hintergrund. Bradfields Roman wäre nicht möglieh, gäbe es nicht tatsächlich soziale Verwahrlosung von Müttern und Kindern, gäbe es nicht die kleinen Genies vom Schlage Stephen Hawkins und hätten die Horror-Geschichten eines Stephen King nicht wirklich die Lektüre im Kinderzimmer ersetzt. Kindergangs, die sich an Klebstoff delektieren und als Einbrecher die Vorortsvillen heimsuchen, müssen nicht erst erfunden werden. Philipp und seinen beiden Freunden ist alles bekannt, alles haben sie analysiert. Eine Perspektive hat ihr Leben nicht. Wer möchte da erwachsen werden? «Ieh will nicht grösser werden», sagt Philipp. «Ich will kleiner werden. Ich will mich in der harten Erde vergraben. Ich will dort verwurzelt sein wie ein abgestorbener Baum. Ich will hineinwachsen in das Herz der Erde, so dass niemand mich je wieder herausreissen kann.» Philipp richtet seine kriminelle Energie gegen die Väter, die ihn auf «die rechte Bahn» bringen möchten, nicht gegen die Mutter, die beduselt im Bett liegt. Scott Bradfields «Die Geschiehte der leuchtenden Bewegung» verbindet den antiken Ödipus-Mythos mit der sachlichen Seelenlosigkeit unserer Zeit, er nimmt die Thematik von Salingers «The Catcher in the Rye» auf und vermittelt sie halb in der Form eines literarischen Road-Movies, halb als Fortsetzung von «Benny's Video», jenes Films über die kaltschnäuzige Gewalttätigkeit eines Jugendlichen. Sicher ist, dass das Buch seltene Kraft entwickelt und Leser und Leserin noch lange beschäftigt.

Urs Dürmüller

Scott Bradfield. Die Geschichte der leuchtenden Bewegung. Ammann Verlag, Zürich. 298 S., Fr. 39.80.