Melvin Jules Bukiet: Danach

Das Ueberleben nach dem Holocaust als Groteske

In den USA schlug „Danach“ („After“) von Melvin Jules Bukiet wie eine Bombe ein. Denn dieser Roman stellt die ganze bisherige Holocaust-Literatur auf den Kopf. „Danach“ meint die Zeit unmittelbar nach den Vernichtungslager, das Ueberleben im Nachkriegschaos nach dem Ueberleben im KZ. Melvin Jules Bukiet schreibt spöttisch und zynisch darüber, wie sich drei junge Juden im wirtschaftlichen Kampf zu behaupten suchen.

Man schreibt das Jahr 1945, die Alliierten Truppen ziehen durch weite Teile Europas, befreien die überlebenden Juden aus den von Hitler und seinen Schergen eingerichteten Todeslagern. Auch für die Insassen des Konzentrationslager von Aspenfeld bringen die Truppen der US Army die nicht mehr erwartete Erlösung. Unter ihnen befindet sich der 19jährige Isaak Kaufman, früher, d.h. vor dem Holocaust, Jeshiva-Schüler, jetzt, danach, d.h. nach dem Holocaust, zum abgefeimten Gauner mutiert. Isaak ist wild entschlossen, nicht nur sein fadendünnes Leben in die Freiheit zu retten, sondern in seinem zweiten Leben jetzt auch gzu profitieren. Die Talente, die ihm im KZ das Ueberleben ermöglicht haben, sollen ihm nun zu gute kommen. Seinen Verstand wird er nutzen und sein kaltes analytisches Denken. Zupacken liegt für den schmächtigen Jungen weniger drin, und Biss hat er überhaupt keinen. Denn anstelle der Zähne sind ihm nach der Behandlung durch die Nazi-Schläger nur ein paar übelriechende Stummel geblieben.

In Markus Morgenstern findet Isaak bald einen patenten Partner. Denn Markus, unter den Nazis zum Meisterfälscher geworden, war früher Zahnarzt; er wird Isaak schliesslich ein neues Gebiss verpassen, ein strahelnd schönes, aus Totengold natürlich. Bevor es jedoch soweit ist, mischeln die beiden in Regensburg im Schwarzmarktgeschäft mit, schmuggeln dies und das, produzieren zuhanden der amerikanischen Militärverwaltung Dokumente aller gewünschten Arten, worunter auch so bürokratische Absurditäten wie Identifikationsausweise für Tote. Die GIs, mit welchen sich die gewitzte Bande abgeben muss, sind natürlich auch korrupt und in sich gegenseitig konkurrenzierende Lager geteilt . Und die Vertreter der humanitären Organisationen sind entweder blind vor lauter tränenseligem Mitleid mit den Opfern des Holocaust oder völlig unfähig, sich im Nachkriegsdschungel zu behaupten und werden dementsprechend ausgenommen. Professionell agieren einzig die Pressefotografin aus Uebersee, die in jedem Moment zur Stelle ist und mit Isaaks Gesicht ganz verschiedenartige Botschaften an die Weltöffentlichkeit bringt, und die leichten Mädchen in der „Grünen Henne“, welche die siegreichen Amis und die malträtierten Juden mit derselben Hingabe betreuen.

Alle, der schleimige Kommandant „Hammerin‘ Hank“, der pokerspielende Korporal „Buben-über.Zweien“ und die Judengang um Isaak und Markus wissen, dass in ihrer unmittelbaren Nähe auf einem Gebiet des Leibknecht-Lagers noch immer 18 Tonnen aus Zahngold gewonnene Barren auf den Abtransport warten, alle halten sie ihren gierigen Blick immer wieder auf den sagenhaften Totengoldschatz gerichtet. Weder Isaak noch Markus, weder der General noch der Korporal kriegen das Gold zum Schluss. Fischl, der einzige Gläubige und Idealist unter all den Zynikern und Materialisten, fährt den Schatz dorthin, wo er wohl wirklich hingehört: nicht in den Tresor einer Bank im Schweizerland, sondern in den von Gräbern durchzogenen Boden des KZ Auschwitz. „Danach“ ist ein Roman, der einen erst einmal sprachlos macht. Denn Bukiet wagt das Unerhörte, den Opfern des Holocaust ohne Respekt und als Satiriker zu begegnen. Es sind bizarre Anekdoten, die der Jude Bukiet über diese Juden in der Nachkriegszeit schreibt. Seine Dialoge sind knapp, seine Bilder grell. Postmodern wirkt Bukiets Technik, andere Autoren mit ihren Figuren zu zitieren, so neben alten jüdischen Legenden auch Thomas Pynchon‘s „Gravity‘s Rainbow“ und das Musical „Cabaret“. Die grosse Party-Szene im dritten Teil des Romans auf der von Pynchon entlehnten Jacht „Anubis“ gerät ihm zu einem irren Kostümfests, an welchem sich Kriegsopfer und Kriegsgewinnler verbrüdern. Die allzu grosszügig verwendete Symbolik eines jeden Auftritts verträgt sich freilich schlecht mit den beiläufigen Zynismen der vorangegangenen Szenen.

Bukiet, so heisst es, habe in seinem Roman Erfahrungen seiner eigenen Familie verwendet. Ihn wegen Respektlosigkeit anzugreifen, ist deshalb unmöglich. Wer den anfänglichen Schock dieser neuartigen Holocaust-Lektüre überwindet und sich auf Isaak Kaufmann und die mal realistisch, mal mythisch überhöht, mal als Karikaturen gezeichneten Figuren seiner Umgebung einlässt, wird schliesslich auch belohnt. Denn Bukiet führt uns mit seiner Groteske nicht in den Nihilismus, sondern auf jenen Boden, auf dem neue Menschlichkeit wachsen kann.

Nachdem alles vorbei war, nach den Morden, nach den Vergewaltigungen, nachdem die Alten gehäutet und die Kinder verhungert waren, nachdem die Thorarollen zu Fetzen zerrissen und die Fetzen verbrannt, die Asche verstreut und die Synagogen zu Ställen für die Kavallerie gemacht und die Friedhöfe entweiht worden waren, nachdem man die Lebenden getötet und den Toten ihre Würde verweigert hatte, nach alledem konnte man hören, wie sich ein Flüstern aus den Wäldern und Feldern und den Universitäten und den Kirchen und aus dem Bunker in Berlin erhob, das noch unerfüllte Gebet, aus dem Wissen geboren, dass es Isaak und Markus und Fischl und den Schreiber und Miranda in Regensburg gab und andere in Amsterdam und London und Toronto und Buenos Aires und Kapstadt und Melbourne und Bombay und Schanghai und New York und Jerusalem und dass der letzte Jude, ganz gleich, wo er war, noch immer atmete, und das Flüstern wurde zum Seufzen: „Nein, nein, nicht danach“, sondern dieser andere, uralte, aufrichtige, ewige Vorsatz: „Dennoch.“

Urs Dürmüller

Melvin Jules Bukiet. Danach. Roman.Luchterhand, 1997. 499 Seiten. Fr. XXXX