Nostalgischer Rückblick durch den Tabakqualm

Bei Suhrkamp, nicht mehr bei Fischer, legt Hermann Burger den ersten Band seines mit Getöse angekündigten Stumpenromans vor. Gewidmet ist das Werk dem zum Bundesrat avancierten Zigarrenbaron Kaspar Villiger.

Brenner - diesen Namen gibt Hermann Burger in seinem neuen Opus sowohl sich selbst wie unserem neuen Bundesrat Kaspar Villiger. Dieser wird gleich auf der ersten Seite des Romans als Cousin zweiten Grades des IchErzählers vorgestellt: «Johann Caspar Brenner (. . .), der zunächst als Nationalrat der Liberalen Partei des Kantons Luzern denn Pfeffikon, Pfäffike, liegt bereits im katholischen Gau, nordwestlich von Menzenmang -, seit vergangenem Herbst als Ständerat eine glänzende politische Karriere teils vor, teils hinter sich hat, und es ist nicht ausgeschlossen, dass er noch den Sprung in den Bundesrat schafft.» Er hat's geschafft, wir wissen's alle, der velofahrende Stumpenkaspar ist jetzt Chef im EMD, und sein Freund Hermann Burger, der an Depressionen leidende, häufig eitel und kompliziert wirkende Schweizer Schriftsteller, hat sein Ziel ebenfalls erreicht: der erste Teil seiner verkappten Autobiographie liegt vor und erregt Aufsehen.

Verkappte Autobiographie

Ja, hinter Brenner, der dem Stumpen-Epos den Titelnamen gibt, verbirgt sich nicht der Villiger Kaspar, sondern der Burger Hermann selbst. Als Hermann Arbogast Brenner sitzt er in seiner Schreibklause auf Schloss Brunsleben und hält Rückschau auf seine ersten Lebensjahre. Wie Proust (den er nie gelesen) befindet er sich auf der' Suche nach der verlorenen Zeit: ,

Ein Familienalbum weckt seine Erinnerungen an Grossvater und Grossmutter, an Mutter und Vater in jenen Jahren des zu Ende gehenden Krieges und der Zeit gleich danach, an die Ferien im hochgelegenen Soglio, an den Terror im Kinder-KZ-Heim zu Amden, und immer wieder an die schöne Fabrikantenvilla in Menziken pardon: Menzenmang - und deren Garten. Es ist eine heile Welt, die Brenner da heraufbeschwört, sichtbargemacht durch den Dunst der Zigarren hindurch, die er ununterbrochen raucht, herbeizaubert auf den Kringelwolken seiner Glimmstengel, ihnen gar einen exotischen Charakter andichtet, wenn er die exquisiten Duftaromen aus Brasilien, Kuba und Java verströmt.

Verlorene Heimat

Burger-Brenners Rückblicke auf seine Kindheit im Tal der Wyna ist nostalgisch: Er bedauert den Verlust des Elternhauses, bedauert, dass der Grossvater aus dem Tabakgeschäft ausgestiegen und Wirt geworden ist, bedauert, dies vor allem, sich selber. Ein «Heimat-, Berufs- und Familienloser» sei er geworden; statt ein Zigarrenbaron wie Freund Kaspar bloss ein Gesellschafter und Zaungast. Die Lehre als Tabak-Kaufmann hätte er gerne gemacht, und das Buch beweist, dass er auch ohne Aussicht auf einen Job in der Tabakindustrie des aargauischen Freiamts all das gelernt hat, was es über Tabake und die Zigarrenproduktion zu wissen gibt. Die enzyklopädischen Aufzählungen der Sorten, ihrer Herkunft und ihrer Verarbeitung wirkt häufig quälend mühsam. Von den Menschen, die die Tabakernte einbringen oder in den Fabriken die schlecht bezahlte Arbeit verrichten, ist nicht die Rede. Burgers Blick ist nie aufs einfache, ja ärmliche Leben gerichtet, sondern nur auf die schöne Welt der teuren Güter. Seine Aufmerksamkeit gilt allein dem Genuss. Zigarren raucht er sich zum Trost, wie er überhaupt sich in den Luxus flüchtet. Der Stumpenromancier Brenner pendelt in seinem roten Ferrari 328 GTS zwischen einem elitären Gespräch über Fontanes «Stechlin mit dem emeritierten Geschichtsprofessor Jerome von Castelmur-Bondo auf Schloss Brunsleben und einem Forellendiner im erlauchten Zirkel der Irlande von Elbstein-Bruyere im ehemaligen Sitz der Äbte von Muri hin und her, schreibt seine Notizen mit einer «saphirblau-goldenen CartierFeder», zieht an einer Hoyo de Monterrey des Dieux und schlürft den Wein einer Flasche .« Chateau LynchBages grand cru classe.

Schriftstellerische Qualitäten

Der von Burgers Brenner so offen zur Schau gestellte Fleiss im Sammeln von Daten zur Tabakindustrie, seine penetrante Gelehrsamkeit, sein Yuppiehafter Drang hin zum Besten vom Besten, mag manchen Leser belustigen, andere verärgern. Sicher aber lenken die Passagen der Selbstdarstellung ab von den gelungenen Partien des Buchs: Burger hat einsame schriftstellerische Klasse, wo er die aargauische Landschaft zwischen Jura und den Moränenzügen beschreibt, wo er mit Worten Bilder malt von Mooren, Flüssen, Seen, von Kirchen, Klöstern und Gutshäusern. Burger setzt auch immer wieder an zum Familienroman alter Schule, wenn er die Gestalten seiner Kindheit anekdotisch beschreibt. Da zeigt sich deutlich: Burger ist ein begnadeter Romancier von gestern. Doch lebt er heute, und deshalb greift er zur Collagier-Methode, klittert die Materialien des «weisch no anno dozumou» mit den Manifestationen seiner Egomanie und seiner Depression zu einem modernen Text zusammen. Wie also wirkt «Brunsleben», dieser erste Teil von Burgers «Stumpenroman» ? Der Leser befindet sich dauernd auf der Suche dach einer Geschichte, kämpft sich durch seitenlange Sätze, versucht, klarzusehen in den verschachtelten Konstruktionen und in der vom Zigarrenraueh getrübten Landschaft. Hat er Ausdauer, wird er freilich belohnt: Der Qualm verzieht sich, und es bleibt ein herrlich duftendes Aroma. Und so entspricht der geneigte Leser falls er durchgehalten hat - zu guter Letzt doch dem Idealbild, das Burger sich von ihm macht: Er wird zum «Genussraucher meiner Kindheit» .

Urs Dürmüller Hermann Burger: «Brunslebenß Suhrkamp Verlag, 336 Seiten.

«Dies bin ich bis auf meine späten Tage in Brunsleben geblieben ein qualmender Fremdling, ein gescheiterter Tabakkaufmann in Menzenmang auf erbrechtlich korrekteWeise enteigneter Schlossgutverweser, Gesellschäfter von Jer6me von Castelmur-Bondo, der sich keinen Intellektuellen sondern einen robusten Gärtner gewünscht hatte, einen, der nicht zimperlich tut, wenn das Heizöl der Kälte wegen unbrauchbar wird und man eine Ofenüberbrückung mit Fässern schaffen muss, einen, der nicht reklamiert, wenn der Blitz ins Dachstudio einschlägt und der grüne Verputz im Hauseingang herunterbröselt, aber dank der Tabakrente, die mir mein Cousin zweiten Grades Johann Caspar Brenner, der das Stammhaus in Pfeffikon führt, verschafft hat, habe ich mein Auskommen und kann in aller Musse die edelsten Blätter rauchen, kann meiner Kindheit im Stumpenland nachhängen, wissend, dass der Mensch nur einmal in seinem Leben ernsthaft die Suche nach der verlorenen Zeit betreibt, dann, wenn seine Stunde unabänderlich geschlagen hat. »

Blick aus der Klinik ins Stumpenland

Dreieinhalb Jahre nach seinem Tod erscheint nun Hermann Burgers letzter Text. Mehr als über seine Kindheit in Menziken AG schildert «Menzenmang» die tiefen Depressionen des Autors.

Vier Bände stark, so heisst es, hätte das Zigarrenepos «Brenner" werden sollen. Doch auf «Brunsleben», den ersten Teil von Burgers stark autobiographisch gefärbter Lebensgeschichte, folgen nun nicht die 25 Kapitel über die Kindheit in «Menzenmang», sondern bloss deren sieben.

«Psychoinvalider» Brenner

Schon das Ende von «Brunsleben» liess ahnen, dass Burger, dieser immer wieder von Depressionen und Selbstmordgedanken heimgesuchte Schriftsteller, mit seinem grossen Unternehmen in Schwierigkeiten gelangen könnte. Da las man nämlich: «Zu Asche sollt ihr werden, denn nirgends steht verbrieft, der Mensch habe ein Anrecht auf ein Quentchen Glück.» Burger, so schien es, würde sich entweder gesundschreiben oder aber endgültig abstürzen. «Menzenmang» beginnt mit Burgers Beschreibung von Hermann Arbogast Brenner, dieser Spiegelexistenz seiner seibst, als «Psychoinvalider». Erst befindet er sich in der Basler Friedmatt, dann in Königsfelden, schliesslich, zwischen Weihnachten und Neujahr, im Akutspital von Baden. Pharmakologisches und Medizinisches gibt es da zu berichten, den Ablauf der Krankentage zu erzählen, das Labyrinth der Klinikgänge zu entwirren. Burger beobachtet scharf das Gehabe der Ärzte, kommentiert ironisch die Nutzlosigkeit der Therapien, er entwirft, kein Zweifel, das luzideste Spitalporträt seit langem. Doch die Fortsetzung des Tabakromans ist das kaum. Burger stellt zwar auch im zweiten Band von «Brenner» die Hauptperson vor als «Privatcigarier», «Tabakrentner und Kindheitsberufraucher», doch die zigarristischen Einschübe wirken forciert und unmotiviert. Da überzeugt höchstens der improvisierteVortrag über die Heilwirkungen der «Nicotiaena tabacum» im Hörsaal der medizinischen Klinik. Im dritten Kapitel endlich fährt Brenner-Burger ins Eynen- und Seetal hinein -jetzt nur noch mit einem Golf Synchro, nicht mehr, wie noch in «Brunsleben», mit dem feuerroten Ferrari Testarossa. Es ist eine erste Annäherung an die Kindheit im Stumpenland - sie kommt jedoch über das Beobachten der Landsleute beim Jassen nicht hinaus.

Bilder der Kindheit

Erst als er im sechsten Kapitel das Bähnli benutzt, kommt er ans Ziel, trifft er tatsächlich in «Menzenmang» ein. Und es scheint, als sei die Depression überwunden, der Gedanke an den Suizid nicht mehr allgegenwärtig. Es scheint, als könne Burger nun eintauchen in «das Erinnern als Archäologe » seiner «verschollenen Kindheit». Tatsächlich steigt im siebten Kapitel das Bild vom Knaben in der Kirche aus dem Erinnerungsdunst. Der Junge möchte Pfarrer werden, um ebenso effektvolllangsam wie dieser die Treppe zur Kanzel emporzusteigen. Statt zum Ausgangspunkt für die Reise durch die Kindheit wird die Kirchenszene jedoch zur Endstation. Burger hat die weiteren geplanten achtzehn Kapitel von «Menzenmang» mit sich in den Tod genommen. Es war halt doch so, dass BurgerBrenner den Spuren seiner Kindheit nicht folgen wollte, «um sie als bedeutend auf den Sockel zu stellen, sondern um sich kurz vor dem Ende, wenn die Lichter löschen und die Welt untergeht, (...) zu vergewissern, wer er war, vorsichtiger, wer er gewesen sein könnte». Die Zigarren, ob nun Braniff Golden Label, Brenner Mocca, Montecristo No. 1, Rössli 7 Aromatico oder Davidoff Chateau Latour, waren zu Ende geraucht, bevor ihrem Dunst alle Bilder der Kindheit entstiegen waren. Schade, dass sich Burger zum «Erinnerungsrauchen» nicht mehr Zeit nehmen konnte. Denn die Texte, die nun im Fragment «Menzenmang» vorliegen, unterstreichen mit aller Deutlichkeit, dass im deutschsprachigen Raum kaum ein anderer Autor so sprachmächtig war wie Hermann Burger. Man lese bloss seine seitenlange Beschreibung des Januarfrosts: «der Winter als raufreifgeselliger Silberschmied».

Urs Dürmüller Hermann Burger: Menzenmang. Roman. Suhrkamp Verlag. 130 Seiten, Fr. 33.10.

Dienstag, 28. Februar 1989