Napoli, Zio Cardellino

Samstag, 1. Oktober 1988

Leitender Angestellter Entflogen

Mit seinen humorvollen Gesprachen und ! Portratts aus Neapel hat sich der Italiener Luciano De Crescenzo in die Herzen einer grossen Lesergemeinde-geschrieben. Jetzt ist die deutsche Ubersetzung einer fruheren Erzahlung erschienen. Nach der volksnah, anschaulich und amusant geschriebenen «Geschichte der griechischen Philosophie» und den zwei kurzweilig-charmanten neapolitanischen Erzählbanden «A1so sprach Bellavista» und «Oi dialogoi» wirkt Luciano De Crescenzos Roman «Zio Cardellino» etwas enttäuschend. Der Diogenes-Verlag legt die 1981 entstandene schmalbrüstige Arbeit im Nachgang zu den genannten Bestsellern vor und weckt damit Erwartungen, die das Buch nicht zu erfüllen vermag. «Zio Cardellino» («Onkel Stieglitz») ist eine skurrile Aussteigergeschichte. Ein Süditaliener, den das moderne Arbeitsleben in die IBM-Verkaufs-Zentrale nach Mailand verschlagen hat, praktiziert den Ausstieg aus dem Buroalltag nicht so, dass er die Kundigung einreicht und sich auf einem Weingut in der Toskana niederlässt, sondern damit, dass er sich allmählich davonmacht, besser gesagt: davonfliegt: Fur die Erwachsenen seiner Umgebung wird zwar klar, dass der Direktor (Klasse 59) einen Vogel hat, doch einzig seine Nichte merkt, dass er selber zu einem Vogel geworden ist. Luca Perella trällert und zwitschert und schlagt mit den Arrnen. Er fällt auf, weicht von der Norm ab und ist deshalb trotz zufriedenstellender Arbeit nicht mehr tolerierbar. Das ist selbstverständlich Material fur eine Komodie, für eine Satire gar. De Crescenzo hat es, wie mir scheint, allerdings etwas flau verarbeitet und die Karikatur zerdehnt, so dass man die Zeichnung auf ihre Wahrscheinlichkeit hin zu überprüfen beginnt. Und schon ist es um die Wirkung des Buches geschehen. Amüsant zwar, aber eben: na ja.

Zwanzig Jahre lang arbeitete Luciano De Crescenzo für IBM Italia. Der Ingenieur war erst als Programmierer tätig, erreichte später den Posten eines Verkaufsdirektors, nur um allsogleich dem Bürostress zu entfliehen - genau so wie Luca Perella in seinem zugegebenermassen stark autobiographisch gefärbten Roman «Zio Cardellino» (1981). Inzwischen ist der prominente Aussteiger zum Parade-Einsteiger geworden. Das Multitalent De Crescenzo hat einfach die Branche gewechselt. Aus dem Computer-Fachmann ist ein Unterhalter geworden. Der silberhaarige Neapolitaner mit dem onkelhaften Bart und den freundlichen Augen ist ein gerngesehener Gast am Fernsehen. Er selber produziert Filme, schreibt fur Magazine und - dies vor allem - schriftstellert. Während er in Italien als vielseitige Medienpers6nlichkeit bekannt geworden ist, sind es bei uns seine Bücher, die De Crescenzos Stimme ins Kulturbewusstsein geruckt haben. Es ist die Stimme eines frohlicher} Philosophen, eines intelligenten Geniessers, eines charmanten Voyeurs, der weiss, was wir von den alten Griechen für unser tagliches Leben lernen konnten, und der grosses Verständnis für die Schwächen seiner Zeitgenossen (vor allem jener aus dem lärmigen, autovernarrten und fussballverrückten Napoli) hat. Aus dieser Haltung heraus hat er von den schonsten, tiefsinnigsten und humorvollsten Erzählungen geschrieben.

De Crescenzos Oden an Mutter Neapel

Wenn ein Philosoph, Humorist und Aussteiger wie der Neapolitaner Luciano De Crescenzo sein Leben Revue passieren lässt, hört man ihm gerne zu. «Im Bauch der Kuh» nennt er seine nun auf deutsch übersetzten Erinnerungen.

Als Luciano De Crescenzo seine anekdotisch aufbereitete Autobiographie 1989 in Italien herausbrachte, da hiess das Buch noch ganz prosaisch «Das Leben des Luciano De Crescenzo von ihm selbst erzählt». Jetzt, für die deutsche Ausgabe, hat der Autor einen poetischeren Titel gefunden: «Im Bauch der Kuh». Dort, so nehmen die Neapolitaner an, muss es einem Menschen wohl sein. Und Wohlergehen, das suchte der gebürtige Neapolitaner De Crescenzo immer. In der Familie, unter Freunden und Kollegen, bei den Frauen und beim Essen, auch im Beruf. Deshalb steckte er ja vor einiger Zeit seine Karriere bei IBM Italia an den Nagel und wurde Schriftsteller, Filmemacher und Fernsehplauderer. Wer den Film «Also sprach Bellavista» im Kino gesehen, wer die Bellavista-Geschichten aus Neapel gelesen hat oder den kauzigen Aussteigerroman «Zio Cardellino», wer sich vom launigen Autor gar in die Geschichte der antiken Philosophie hat einführen lassen, der wird mit Genuss auch nach den Lebenserinnerungen De Crescenzos greifen. Dreiviertel seiner Zeit seien jetzt um, merkt der Autor an und philosophiert ein bisschen über das Menschenleben. Kleine Ereignisse aus dem Alltag werden exemplarisch aufgearbeitet. Szenen vom Familientisch, skurril, komisch, pathetisch; Lucianos erste, wenig erfolgreiche Erfahrungen mit Sex; seine erste Liebe und die folgenden Lieben; der Umgang mit Schulkameraden und Nachbarn; selbst die Flucht vor den alliierten Bombern und der Kampf ums Ueberleben in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs; all dies dient De Crescenzo als Material für sein heiter stimmendes Lesefutter. Natürlich fehlen in dieser Sammlung von autobiographischen Anekdoten auch die Erfahrungen des Ingenieurs bei IBM und des Filmrgisseurs in der Cineeitta in Rom nicht. Doch im Vergleich zum Reichtum der neapolitanischen Figuren, deren Menschlichkeit und Kauzigkeit, wirken sie nebensächlich.

Neapel im Bild

Tatsächlich kehrt De Crescenz am Ende seines neuen Buches wieder nach Neapel zurück, dorthin eben, wo sich ein Mensch so wohl fühlt wie im Bauch der Kuh oder wie in Abrahams Schoss. Dieser Stadt des Chaos und der Träume hat er 1990 einen Fotoband mit Texten gewidmet («Bellavistas Neapel»), mit dessen Bildern man manches Kapitel von Crescenzos Lebensbericht ergänzen sollte.

Vorsichtige Lebensrezepte

«Der positive Zweifel» und «Dreiviertel» lauten die Titel der beiden letzten Kapitel von «Im Bauch der Kuh». In ihnen hält Luciano de Cre scenzo nicht mehr Rückschau auf sein bisheriges Leben, sondern formuliert wie sein Professore Bellavista vorsichtige Maximen für die Bewältigung der Gegenwart und die nächsten Schritte auf dem Lebensweg hinein in die unbekannte Zukunft und hinaus in das noch weniger bekannte Nachleben.

Urs Dürmüller

• Luciano De Crescenzo: Im Bauch der Kuh. Das Leben des Luciano De Crescenzo von ihm selbst erzählt. Albrecht Knaus Verlag, München, 1992, 239 S., Fr. 34.20. • Luciano De Crescenzo: Bellavistas Neapel, Diogenes Verlag, Zürich, 1990,141 S., Fr. • Luciano De Crescenzo: «Zio Cardellino. Der Onkel mit dem Vogel.» Roman. Diogenes Verlag, Zürich 1988. 158 Seiten, Fr. 22.80