VIKTOR KLEMPERER :Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten

Tagebuch aus Nazi-Deutschland

Die vielen Opfer des Nazi-Regimes können nicht mehr reden. Einer jedoch, dem das Schlimmste erspart blieb, schrieb im Geheimen alles auf: Die ausführlichen Tagebücher von Viktor Klemperer sind nun, 35 Jahre nach dem Tod des Autors, endlich erschienen.

„Ich möchte auch nur zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegen-wärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen auch einmal glückt.“ Das schrieb Viktor Klemperer (1881-1960) unter dem Datum des 17. Januar 1942 in sein Tagebuch. Klemperer wollte sein Tagebuch nutzen für seine Lebensgeschichte, die freilich unvollendet blieb, und für eine Publikation über die Sprache des Dritten Reiches, erschienen 1947. Jetzt haben Walter Nowojski und der Berliner Aufbau-Verlag die Tagebücher aus den Jahren 1933 - 1945 selbst zugänglich gemacht. In zwei umfangreichen Bänden ist nachzulesen, was dieser jüdische, aber sich ganz der deutschen Nation zugehörig fühlende Intellektuelle vom Alltag in der Nazi-Zeit festhalten wollte. „In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Oede mechanistischer Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äusserster Schmach, bei physich versagendem Herzen - immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht - morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders: halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt.“ Eigentlich war Viktor Klemperer Romanist und als solcher Professor an der Technischen Universität in Dresden. Doch für den Rabbinersohn gab es nach 1935 keine Anstellung mehr. Deportation und Kozentrations- lager blieben ihm nur deshalb erspart, weil er mit einer „echten“ Deutschen verheiratet war und diese Frau trotz aller Pressionen zu ihrem Mann hielt. Seit seiner frühesten Jugend führte Klemperer ein Tagebuch. In der Nazi-Zeit zwang er sich, seine alltäglichen Beobachtungen, eigenen Erlebnisse und Erfahrungen konsequenter und ausführlicher festzuhalten. Aus dem arbeitslosen Hochschullehrer wurde ein selbsternannter Chronist. Nicht die grossen politischen Ereignisse sind es, die er niederschreibt - sie finden eher beiläufig Erwähnung -, sondern deren Auswirkungen auf die Menschen. Walter Novojski, der Herausgeber der rund 1700 Seiten starken Tagebücher, fasst die Texte wie folgt zusammen: „Aengste und Zweifel, Hoffnungen und Illusionen der Bedrängten finden sich ebenso widergespiegelt wie die Schikanen, der Zynismus und die Brutalität der Bedränger.“ Man liest die beiden Bände zwar nicht wie einen Roman, aber man konsultiert sie auch nicht wie eine Datenbank. Die saubere Chronologie und das ausführliche Register sind allerdings für jeden Historiker eine willkommene Hilfe, zu einem bestimmten Datum oder einer bestimmten Person Informationen abrufen zu können. Andere Leser werden feststellen, dass die Tagebücher nicht bloss aus wertvollen Anmerkungen zur Geschichte des Dritten Reichs bestehen, sondern selber eine Geschichte erzählen: die eines sich gegen Isolation und Entmündigungm auflehnenden Humanisten, eines Ausgegrenzten, der Bürger zu bleiben versuchte, eines Menschen, der die Unmenschlichkeit des Terrorregimes erkannte, und eines Juden, der Deutscher blieb, obwohl das zeitgenössische Deutschtum sein Judentum ausschloss. Viktor Klemperers Notate zur Kenntnis nehmen, das scheint gerade in unseren Tagen nötig zu sein, da mancherorts der braune Ungeist sich wieder zu regen beginnt und gleichzeitig von fehlgeleiteten Nachgborenen behaupet wird, die dokumentierten Nazi-Greuel hätte es gar nicht gegeben.

Urs Dürmüller

Viktor Klemperer. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945. 763 u. 928 Seiten. Aufbau Verlag Berlin. Fr. 71.-