Epiktet
Handbüchlein der
Ethik
1
Einige Dinge stehen in unserer
Macht, andere hingegen nicht. In unserer Macht sind Urteil,
Bestrebung, Begier und Abneigung, mit einem Wort alles das,
was Produkt unseres Willens ist. Nicht in unserer Macht sind
unser Leib, Besitz, Ehre, Amt, und alles was nicht unser Werk
ist. Was in unserer Macht ist, ist seiner Natur gemäß frei,
kann nicht verboten oder verhindert werden; was aber nicht in
unserer Macht steht, ist knechtisch, kann verwehrt werden, gehört
einem anderen zu.
Deshalb bedenke, daß du Hinderung
erfahren in Trauer und Unruhe geraten, ja sogar Götter und Menschen
anklagen wirst, wenn du das von Natur Dienstbare für frei und
das Fremde für dein eigen ansiehst. Hältst du dagegen für dein
Eigentum nur, was wirklich dein eigen ist, und betrachtest das
Fremde als fremd, so wird dich niemand jemals zwingen oder hindern;
du wirst niemanden anklagen oder beschimpfen, und nicht das
geringste mit Widerwillen tun; niemand kann dir schaden; du
wirst keinen Feind haben, und nichts, was dir nachteilig sein
könnte, wird dir begegnen.
Willst du nun aber nach so großartigen
Dingen trachten, so bedenke, daß du sie nicht bloß mit mittelmäßigen
Ernste angreifen, sondern manches gänzlich aufgeben, anderes
einstweilen hintansetzen mußt. Wenn du jene Dinge erstrebst,
gleichzeitig aber in hohen Ämtern stehen oder reich sein willst,
so wirst du wahrscheinlich diese letzteren Güter nur um so weniger
erreichen, weil du eben zugleich nach den ersteren begehrst.
Ganz sicher aber wirst du dasjenige ganz verfehlen, woraus allein
Glück und Freiheit entsteht.
Bemühe dich daher, jedem unangenehmen
Gedanken damit zu begegnen, daß du sagst: "Du bist nicht
das, was du zu sein scheinst (etwas Reelles), sondern bloß ein
Gedankending (eine Einbildung)." Alsdann prüfe nach den
von dir angenommenen Grundregeln, besonders nach der ersten,
ob es zu den in unserer Macht stehenden Dingen gehöre oder nicht.
Gehört es zu den nicht in unserer Macht stehenden, so halte
dies Wort bereit: Es berührt mich nicht.
2
Mache dir klar, das die Begierde
das Erlangen desjenigen verspricht, was man begehrt, die Abneigung
aber nicht in das hineingeraten will, was verabscheut wird,
und daß der, welchen seine Begierde täuscht, unglücklich ist,
noch unglücklicher aber der, welcher in das gerät, was er nicht
leiden kann.
Wenn du nun bloß das verabscheust,
was denjenigen Dingen zuwider ist, welche in deiner Macht stehen,
so wird dir nichts, was du verabscheuen müßtest, begegnen können.
Verabscheust du aber die Krankheit, oder den Tod, oder die Armut,
so wirst du unglücklich werden. Gestatte dir daher keine Abneigung
gegen alles, was nicht in unserer Macht ist, und laß sie nur
gegen das walten, was der Natur der in unserer Macht stehenden
Dinge zuwider ist.
Der Begierde aber enthalte dich
vorderhand gänzlich. Denn begehrst du etwas, was nicht in unserer
Macht ist, so mußt du notwendig das Glück vermissen; von dem
aber, was in unserer Macht ist und was zu begehren sich ziemt,
weißt du einstweilen noch nichts. Bei allem Begehren und Verabscheuen
wende dich nur sanft und gelassen ab und zu.
3
Bei allen erfreulichen, nützlichen
und daher von dir geliebten Dingen unterlaß nie, dir klar zu
machen, wie sie beschaffen sind, und fange hierbei bei den kleinsten
Gütern an. Siehst du einen Krug, so sage dir, daß du einen Krug
siehst; dann wirst du nicht in Unruhe geraten, wenn er bricht.
Umarmst du dein Kind oder Weib, so sage dir, daß du einen Menschen
küssest, so wird dir nicht ungelassen werden, wenn er stirbt.
4
Beginnst du irgendein Werk, so
bedenke genau, von welcher Art es sei. Willst du baden gehen,
so erwäge zuvor bei dir selbst, was sich alles im Bade zu ereignen
pflegt, daß einige sich herausdrängen, andere ungestüm hineinstürzen,
einige schimpfen, andere stehlen. Daher wirst du mit größerer
Sicherheit die Sache unternehmen, wenn du dir vor vornherein
sagst: "Ich will baden und dabei meine vernunftgemäßen
Entschlüsse behaupten."
So verfahre bei jedem Werke.
Dann hast du, wenn sich während des Badens irgendetwas Hinderndes
ereignet, sogleich den Gedanken bei der Hand: "Nicht bloß
dieses (baden z.B.) wollte ich, sondern auch meinen freien Willen
und Charakter bewahren. Ich würde ihn aber nicht behaupten,
wenn ich über das, was hier vorgeht, ungehalten sein wollte."
5
Nicht die Dinge selbst, sondern
die Meinungen über dieselben beunruhigen die Menschen. So ist
der Tod an und für sich nichts Schreckliches, sonst wäre er
auch dem Sokrates so vorgekommen; vielmehr ist die vorgefaßte
Meinung von ihm, daß er etwas Schreckliches sei, das Schreckhafte.
Wir wollen daher, wenn wir von etwas gehindert, beunruhigt oder
betrübt werden, niemals andere anklagen, sondern uns selber,
nämlich unsere Meinung davon. Seines Unglücks wegen andere anklagen,
ist die Art der Ungebildeten, sich selbst, die der Anfänger,
noch sich, die der gebildeten und vollständig erzogenen.
6
Sei nicht stolz auf einen Vorzug,
der nicht dein eigen ist. Wenn ein Pferd in stolzer Selbsterhebung
sagen würde: "Ich bin schön", so wäre dies erträglich;
wenn du aber mit Stolz sprächest: "Ich habe ein schönes
Pferd", so bist du stolz auf des Pferdes Vorzug. Was gehört
dir dabei? Die Denkungsart. Mit Recht wirst du dann stolz sein
können, wenn du darin richtig handelst, denn dann bist du auf
eine gute Eigenschaft stolz, die wirklich dir angehört.
7
Bist du auf einer Seereise, wenn
das Schiff zeitweise in einem Hafen vor Anker liegt und du aussteigst,
um Wasser zu holen, auf dem Wege etwa auch ein Müschelchen oder
ein Zwiebelchen auflesen magst, dabei aber stets deine Gedanken
auf das Schiff gerichtet haben und fortwährend zurückschauen
mußt, ob nicht etwa der Steuermann rufe, und wenn er ruft, alles
verlassen mußt, um nicht sonst wie die Schafe gebunden (gleich
einem ungehorsamen oder entlaufenen Sklaven) in das Schiff geworfen
zu werden, so magst du auch im Leben, wofern dir ein Frauchen
oder Kindchen gegeben ist, dich daran freuen; wenn aber der
Steuermann ruft, so eile zum Schiffe, verlaß alles, schaue dich
nach nichts um.
Bist du schon ein Greis, so entferne
dich überhaupt nie mehr weit vom Schiffe, damit du nicht zurückbleibst,
wenn der Steuermann ruft.
8
Begehre nicht, daß die Sachen
in der Welt gehen, wie du es willst, sondern wünsche vielmehr,
daß alles was geschieht, so geschehe, wie es geschieht, dann
wirst du glücklich sein.
9
So ist Krankheit ein Hindernis
des Körpers, nicht des Willens, insofern dieser sie nicht selbst
dazu macht. Hinken ist ein Hindernis des Beines, nicht des Willens.
Sage dir das bei allem, was sich für dich ereignet, so wirst
du finden, daß die Ereignisse stets etwas anderes tun, als dich
hindern.
10
Bei allen Ereignissen besinne
dich, in dir forschend, welche Kraft du gegen dieselben besitzest.
Siehst du eine schöne Person, so wirst du die Enthaltsamkeit
als Kraft gegen sie bei dir finden; kommt die mühsame Arbeit
auf den Hals, Ausdauer; wenn dir Schmach zu teil wird, Geduld;
nie werden dich, wenn du dich so gewöhnst, die Vorstellungen
hinreißen.
11
Sprich nie von einer Sache: Ich
habe sie verloren, sondern: Ich habe sie zurückgegeben. Dein
Söhnlein ist gestorben, es ist zurückgegeben. Dein Gut ist dir
entrissen worden, auch dies ist zurückgegeben. Wohl ist der
ein Bösewicht, der es dir entreißt; was liegt dir aber daran,
durch wen es der Geber zurückfordern will? Solange er es dir
zum Besitz überlassen hat, besitze es als ein fremdes Gut, wie
ein vorüberreisender Wanderer seine Herberge.
12
Willst du rechte Fortschritte
in der Weisheit machen, so beseitige in dir folgende unrichtige
Gedanken: "Wenn ich mein Eigentum sorglos behandle, werde
ich keinen Lebensunterhalt mehr haben; wenn ich meinen Sohn
nicht strafe, so wird er ein Bösewicht werde." Besser ist
es, ohne Furcht und Kummer sterben, als mit unruhigem Gemüt
in allem Überflusse leben; besser, daß der Junge ein Bösewicht
werde, als daß du unglücklich seiest.
Fange deshalb bei dem kleinsten
an. Es wird dir Öl verschüttet, man stiehlt dir Wein, sprich
dabei: So teuer kauft man Leidenschaftslosigkeit, so teuer Gemütsruhe.
Umsonst bekommt man nichts. Wenn du deinen Diener rufst, so
stelle dir zugleich vor, er könne es nicht gehört haben, oder
er könne, wenn er es hörte, nicht tun, was du wünschest. Aber
(sagst du) das schickt sich nicht für ihn. (Es mag sein.) Für
dich aber schickt es sich, dich nicht von ihm ärgern zu lassen.
13
Wenn du in der Weisheit gehörig
vorwärtskommen willst, so ertrage es geduldig, wegen äußerer
Dinge für unverständig oder dumm gehalten zu werden. Wolle nicht
erscheinen, als wüßtest du etwas, und selbst wenn du andern
etwas zu sein scheinst, so mißtraue dir selbst. Denn es ist,
das mußt du wissen, nicht leicht, zugleich den innern Vorsatz
und die äußeren Dinge festzuhalten, vielmehr notwendig, daß
der, welcher das eine davon eifrig betreibt, das andere darüber
vernachlässigen muß.
14
Du bist ein Narr, wenn du willst,
daß deine Kinder, dein Weib, deine Freunde ewig leben; denn
du willst etwas, das nicht in deiner Macht steht, in der Gewalt
haben und etwas Fremdes zu eigen. Ebenso bist du ein Narr, wenn
du verlangst, daß dein Knabe keine Fehler begehe. Damit willst
du, daß Fehler nicht Fehler seien, sondern etwas anderes. Dagegen
kannst du das Ziel erreichen, daß dir nichts fehlschlägt, wenn
du nämlich nur tust, was du vermagst.
Ein Herr über alles ist, wer
das, was er will oder nicht will, erreichen oder vermeiden kann.
Wer frei sein will, muß nichts begehren und nichts fürchten,
was in eines andern Macht steht; andernfalls ist er dessen Knecht.
15
Bedenke das: du mußt dich im
Leben wie bei einem Gastmahle verhalten. Wird etwas herumgeboten
und kommt es zu dir, strecke die Hand aus und nimm ein bescheidenes
Teil davon. Es kommt etwas, das du gern hättest, einstweilen
noch nicht zu dir, richte dein Begehren nicht weiter darauf,
sondern warte, bis es an dich gelangt. Verhalte dich so in Hinsicht
auf Kinder, Weib, Ehrenstellen, Reichtum; dann wirst du ein
würdiger Gast der Götter sein.
Wenn du aber auch von dem dir
Angebotenen nichts nimmst, sondern gleichgültig darüber wegsiehst,
dann wirst du nicht bloß Gast, sondern Mitregent der Götter
sein. Durch diese Art zu handeln verdienten Diogenes, Herakleitos
und ähnliche wirklich den Namen der Göttlichen, der ihnen gegeben
ward.
16
Siehst du jemand in Trauer, weil
sein Sohn in die Ferne gereist ist, oder weil er sein Vermögen
verlor, so laß dich nicht zu der eigenen Einbildung hinreißen,
daß dieser Mensch durch den Verlust der äußeren Dinge unglücklich
sei, sondern halte dich bereit, bei dir zu sprechen: "Nicht
dieser Unfall beschwert ihn (denn mache andere würden ja davon
nicht geplagt werden), sondern die Vorstellung, die er davon
hat." Säume nicht, durch vernünftige Gespräche ihn zu heilen,
auch wohl, wenn es sein muß, mit ihm zu weinen. Nur hüte dich,
daß du nicht in deinem Innern mitseufzest.
17
Bedenke das, du bist in einem
Drama der Inhaber einer bestimmten Rolle, welcher der Dichter
durch dich ausführen will. Ist sie kurz, so spielst du eine
kurze, ist sie lang, eine lange Rolle. Will er, daß du einen
Armen vorstellest, so spiele ihn gut; ebenso einen Lahmen, oder
eine obrigkeitliche Person, oder einen gewöhnlichen Bürger.
Denn das ist deine Sache, die Rolle, die dir übertragen ist,
gut zu spielen; sie zu wählen, ist die Sache eines andern.
18
Wenn dir ein Rabe Unheil krächzt,
so laß dich nicht von der Vorstellung davon beunruhigen, sondern
unterscheide und stelle bei dir sogleich fest: "Mir ward
nichts angedeutet, sondern meinem hinfälligen Leibe, oder meinem
bisschen Vermögen, oder dann wieder meiner Ehre, oder meinen
Kindern, oder meinem Weibe. Mir wird, wenn ich es so will, lauter
Glück geweissagt; denn was sich auch ereignen wird, es steht
in meiner Macht, daraus Vorteil zu ziehen."
19
Du kannst unüberwindlich sein,
wenn du keinen Kampf unternimmst, in welchem du nicht siegen
kannst. Hüte dich, daß du nicht, wenn du einen sehr geehrten,
oder sehr mächtigen, oder sonst in hohem Ansehen stehenden Mann
siehst, von deiner Vorstellung hingerissen, ihn (mit Neid) für
glücklich schätzest. Da alle wahren Güter in Dingen bestehen,
die in unserer Macht sind, so haben Neid und Eifersucht keinen
Sinn. Du willst doch nicht Feldherr, nicht Magistrat, nicht
Konsul sein, sondern frei. Der Weg zur Freiheit aber ist Verachtung
aller Dinge, die nicht in unserer Macht stehen.
20
Erwäge, daß nicht der dich mißhandelt,
welcher dich lästert oder schlägt, sondern deine Vorstellung,
daß dies eine Schande sei. Macht dich jemand böse, so reizt
dich nur deine eigene Vorstellung. Bemühe dich also vor allem,
nie im Augenblicke von ihr hingerissen zu werden; später, wenn
du einmal Zeit zur Überlegung gehabt hast, wirst du dich schon
beherrschen können.
21
Laß dir täglich Tod, Verbannung
und alles, was sonst furchtbar erscheinen mag, vor Augen sein,
so wirst du nie niedrig denken, oder allzuheftig begehren.
22
Wenn du Weisheit lernen willst,
so mußt du darauf gefaßt sein, daß man dich auslachen wird,
und daß viele spottend sagen werden: Der kommt ja plötzlich
als ein Philosoph daher; warum für uns (die wir ihn doch von
Jugend auf kennen) die hohen Augenbrauen?
Mache du überhaupt keine stolze
Miene; halte aber an dem, was du als das Beste erkannt hast,
so fest, als ob du von Gott auf diesen Posten kommandiert seiest,
und glaube, daß, wenn du fest auf demselben beharrst, die, welche
dich früher verlachten, dich später bewundern werden. Gibst
du ihnen aber nach, so werden sie dich doppelt verlachen.
23
Sollte es dir begegnen, daß du
dich einmal von dir selbst nach außen wendest und der Welt gefallen
willst, so hast du deinen richtigen Zustand verloren. Begnüge
du dich, immer ein Philosoph zu sein, und willst du es auch
jemand scheinen, so scheine es dir selbst, das ist genug.
24
Nie laß durch den Gedanken beunruhigen:
"Ich werde ohne Ehrung und Bedeutung mein Leben hinbringen
müssen." Wäre Mangel an Ehre ein Übel, so kann dich doch
niemand in dasselbe stürzen, so wenig als in eine Schande. Ist
es deine Sache, Ehrenstellen zu erlangen, oder zu Gastmählern
geladen zu werden? Keineswegs. Wie kann es denn Unehre für dich
sein? Und wirst du unbedeutend leben, da du gerade für die Dinge,
die in deiner Macht stehen, bedeutend sein und dir die größte
Ehre erwerben kannst? Aber (sagst du) meine Freunde werden hilflos
sein? Allerdings werden sie von dir kein Geld erhalten, und
du wirst sie nicht zu römischen Bürgern machen können. Wer sagte
dir, daß dies Dinge sind, die in unserer Macht stehen, und nicht
vielmehr fremde, und wer kann andern geben, was er selbst nicht
hat? Eben deshalb (sagst du) muß man Vermögen erwerben, damit
die andern auch haben. Wenn ich ohne Verletzung des Gewissens,
der Redlichkeit und einer edlen Gesinnung Besitztümer erwerben
kann, so zeigt mir diesen Weg, so will ich sie erwerben. Verlangt
ihr aber von mir, daß ich meine (wahren) Güter aufgeben soll,
damit ihr Nichtgüter erwerbet, so müßt ihr selbst es einsehen,
wie unbillig und unverständig ihr seid. Welches wollt ihr lieber:
Geld oder einen treuen, gewissenhaften Freund? Darum hilft mir
lieber zu dem letzteren und verlangt nicht, daß ich etwas tue,
wodurch ich diese Eigenschaft verlieren würde. Aber das Vaterland
- so sprichst du - wird die Hilfe, die ich ihm leisten könnte,
entbehren müssen. Dagegen sage ich: welche Hilfe meinst du?
Allerdings wird es durch mich weder Säulenhallen noch Bäder
erhalten; aber was tut das? Es bekommt auch keine Schuhe von
einem Schmied und keine Waffen von einem Schuster. Nützest du
dem Vaterland nicht auch, wenn du ihm andere zu treuen, gewissenhaften
Bürgern erziehst? Das wohl. Also bist du ihm nicht unnütz. Welche
Stellung aber, sprichst du, soll ich im Staate einnehmen. Welche
du mit Treue und Gewissenhaftigkeit bekleiden kannst. Andernfalls,
was würdest du dem Vaterlande nützen, wenn du unverschämt und
treulos geworden wärest?
25
Es wird dir jemand bei einem
Gastmahle vorgezogen, oder bei einer Begrüßung, oder bei Zuziehung
zu einer Beratung. Sind dies nun wirkliche Güter, so wünsche
dem Glück, welchem sie zu teil werden; wenn es aber Übel sind,
so hast du dich nicht zu betrüben, daß du sie nicht erlangest.
Jedenfalls bedenke, daß du nicht gleiche Belohnungen wie andere
erlangen kannst, ohne das nämliche, wie sie, zur Erlangung dessen,
was nicht in unserer Macht steht, zu tun. Oder wie kann der,
der einem großen Herrn keine Besuche macht, bei demselben in
gleicher Gunst stehen, wie der, welcher es tut, oder der, welcher
nicht an seinem Ehrengeleite sich beteiligt, so wie der, welcher
beiwohnt, oder der, welcher kein schmeichelndes Lob spendet,
wie der, welcher lobt? Du wärest ungerecht und unersättlich,
wenn du den Preis, wofür diese Dinge feil sind, nicht zahlen,
sondern dieselben unentgeltlich bekommen wolltest.
Wie teuer verkauft man Salat?
Vielleicht um einen Groschen. Wenn nun jemand keinen Groschen
zahlt und dafür den Salat erhält, du aber das Geld nicht auslegst
und nichts erhältst, so hast du nicht weniger als jener. Er
hat seinen Salat, du deinen Groschen, den du nicht hingabst.
So verhält es sich auch in andern Dingen. Du bist nicht zu jemand
eingeladen worden, hast aber eben dem Einladenden auch nicht
das gegeben, wofür er die Einladung verkauft. Er verkauft sie
ja um Lob, oder Dienstleistungen. Bezahle ihm seinen Preis,
wenn es dir vorteilhaft scheint; willst du aber nicht geben
und doch nehmen, so bist du ein habgieriger Tor. Hast du nun
nichts anstatt des Gastmahles? Doch, du hast das, daß du den
nicht gelobt hast, den du nicht loben wolltest.
26
Die Stimme der Vernunft können
wir in unzweifelhaften Dingen deutlich vernehmen. Wenn z.B.
der Knabe eines andern ein Gefäß zerbrach, so sagt sich jeder
sogleich: Das ist nichts Ungewöhnliches. Benimm dich also ebenso,
wenn das deinige zerbricht, wie du dich verhieltest, als das
des andern zerbrach. Wende dies auf größere Dinge an. Das Kind
oder Weib eines andern starb; jedermann sagt: das ist Menschenlos.
Ist aber jemandem eines der seinen gestorben, so wird geklagt:
O weh, ich Unglücklicher! Wir sollten uns aber erinnern, mit
welchen Gefühlen wir das nämliche bei andern aufnahmen.
27
Wie ein Ziel aufgesteckt wird,
nicht um es zu verfehlen, so ist auch das Unglück in der Welt
nicht vorhanden, um ihm auszuweichen.
28
Wenn man dem ersten besten Gewalt
über deinen Leib gäbe, das würde dich entrüsten. Scheust du
dich denn nicht, jedem beliebigen, der dir begegnet, Gewalt
über dein Gemüt zu geben, so daß er dasselbe erschüttern und
in Unruhe versetzen kann, sobald er sich mit dir zankt?
29
Bei jedem Geschäfte prüfe zuerst
genau, was ihm vorangehen muß und was es mit sich bringt; dann
erst beginne es. Sonst wirst du, wenn du die notwendigen Folgen
nicht überlegst, anfangs willig beginnen, wenn aber Schwierigkeiten
sich zeigen, mit Beschämung zurücktreten müssen. Du willst z.B.
einen Preis bei den olympischen Spielen gewinnen. Ich auch,
bei den Göttern, denn das ist ruhmvoll. Aber überlege zuerst,
was solchem Werke vorangeht und was nachfolgt, dann greife es
an. Du mußt dich in strenger Zucht halten, nach Zwangsregeln
essen, aller Leckerbissen dich enthalten, dich nach strengem
Befehl zu bestimmten Stunden in Hitze und Kälte üben, nichts
Kaltes trinken, nicht ohne Vorsicht Wein trinken, mit einem
Wort, du mußt dich dem Lehrmeister gerade wie einem Arzt übergeben.
Dann mußt du auf den Kampfplatz treten. Dabei ist es möglich,
daß du eine Hand oder einen Knöchel verrenkst, viel Staub verschluckst,
vielleicht sogar geschlagen und dann erst noch besiegt wirst.
Dies erwäge genau, und erst, wenn du dann noch Lust hast, so
werde ein Kämpfer. Sonst verfährst du wie die Kinder, die bald
Ringer, bald Fechter spielen, bald Trompeter, bald Schauspieler
vorstellen. So machst du es. Jetzt bist du ein Ringkämpfer,
dann ein Fechter, dann ein Redner, dann ein Philosoph, von ganzer
Seele aber nichts, sondern du ahmst nur wie ein Affe nach, was
du jeweilen siehst und es gefällt dir eines nach dem anderen.
Du bist eben nicht mit Überzeugung und gehöriger Voraussicht
an die Sache gegangen, sondern leichtfertig und mit bald wieder
erkaltender Begierde. Wenn einige einen Philosophen sehen oder
sagen hören: "Wie doch Euphrates reden kann! Keiner kommt
ihm darin bei", so wollen sie sogleich auch Philosophie
studieren. Mensch, erwäge zuerst genau, was eine Sache erfordert,
und dann betrachte dich selbst, ob du ihr gewachsen seiest.
Du willst ein Athlet in den fünf Spielen sein, oder ein Ringkämpfer;
siehe deine Arme, deine Schenkel, deine Lenden an. Nicht jeder
ist zu allem geschaffen. Oder glaubst du, daß du dabei ebenso
wie sonst essen, trinken, zürnen könntest? Du mußt vielmehr
wachen, arbeiten, dich von Freunden absondern, selbst von Sklaven
dich geringschätzen lassen und in allem zurückstehen, in Ehre,
Ämtern, Gerichten und allen Geschäften. Erwäge, ob du dagegen
Leidenschaftslosigkeit, Freiheit, Unbeugsamkeit eintauschen
willst, sonst würdest du wie die Knaben bald Philosoph, bald
Finanzmann, dann wieder Redner und zuletzt gar kaiserlicher
Prokurator werden wollen. Diese Dinge passen nicht zusammen.
Du mußt ein einheitlicher Mensch sein, ein guter oder ein schlechter.
Du mußt entweder den vornehmsten Teil deines Ichs (Verstand,
Vernunft, Geist) oder die Außenseite ausbilden, auf Inneres
oder Äußeres bedacht, entweder ein Philosoph oder ein gewöhnlicher
Mensch sein.
30
Die Pflichten richten sich nach
den persönlichen Verhältnissen. Einen Vater muß man achte, ihm
in allen Dingen nachgiebig sein, es dulden, wenn er tadelt oder
schlägt. Aber (sagst du) der Vater ist ein böser Mann. Hat dich
das Geschick zu einem guten Vater gesellt? Nein, sondern zu
einem Vater. Dein Bruder handelt ungerecht gegen dich? Betrachte
dein Verhältnis zu ihm, sieh nicht darauf, was er tut, sondern
durch welches Vorgehen du vernünftig handelst. Es kann dich
niemand kränken, wenn du es nicht willst. Gekränkt bist du,
wenn du dich für gekränkt hältst. Ebenso wirst du die Pflichten
gegen Nachbarn, Mitbürger, Anführer finden, wenn du dich gewöhnst,
darüber nachzudenken, was diese Benennungen bedeuten.
31
Wisse, daß es in Bezug auf die
Religion wesentlich darauf ankommt, richtige Vorstellungen von
den Göttern zu haben, nämlich die: daß sie existieren und das
Weltall gut und gerecht regieren; ihre Verfügungen anzunehmen
und willig zu befolgen, da sie Anordnungen des höchsten Ratschlusses
sind. Dann wirst du weder jemals die Götter tadeln noch anklagen,
als ob du von ihnen vernachlässigt worden wärest. Das ist aber
nicht anders möglich, als wenn du auf die Dinge verzichtest,
die nicht in unserer Macht sind, und nur in denen, die in unserer
Macht sind, Gutes und Schlimmes erkennst. Wenn du nicht irgend
ein Ding für ein Gut oder Übel ansiehst, so mußt du notwendig
seinen Urheber anklagen und hassen, sobald du nicht erlangst,
was du wünschest, oder in etwas gerätst, was du nicht willst;
denn jedes lebendige Wesen ist so beschaffen, daß es das, was
ihm schädlich erscheint, und seine Ursachen flieht und verabscheut,
das Nützliche hingegen und seine Ursachen aufsucht und bewundert.
Es ist daher nicht möglich, daß einer, der sich für geschädigt
hält, mit dem zufrieden sei, von dem er sich geschädigt glaubt,
wie es auch unmöglich ist, sich über die Schädigung selber zu
freuen. Daher wird selbst ein Vater vom Sohne geschmäht, wenn
er seinem Kinde Dinge, welche Güter zu sein scheinen, verweigert.
Das machte Polynikes und Eteokles zu Feinden, daß sie die Alleinherrschaft
für ein Gut hielten. Daher kommt es, daß der Landmann, der Schiffer,
der Kaufmann, oder die, welche Weib und Kind verloren haben,
wider die Götter murren, denn bei ihnen ist Glück und Religion
beisammen. Wirkliche Religion hat nur, wer rechtmäßige Begierden
und Abneigungen hat. Für jeden aber ziemt es sich, Opfer nach
heimischer Sitte zu bringen, rein, nicht schlecht, nicht nachlässig
oder spärlich, und auch nicht über Vermögen.
32
Gehst du zu einem Wahrsager,
so bedenke, daß du den Ausgang, den die Sache nehmen wird, nicht
kennst, sondern eben kommst, um ihn von einem Wahrsager zu erfahren.
Bist du aber ein Philosoph, so kanntest du die Gestalt der Sache
schon, bevor du hingingst. Denn ist es eines von den Dingen,
die nicht in unserer Macht sind, so folgt notwendig daraus,
daß es weder ein Gut, noch ein Übel sei. Bringe daher weder
Lust noch Unlust mit zum Wahrsager, sonst mußt du mit Zagen
zu ihm gehen, sondern gehe dahin in der Überzeugung, daß alles,
was geschehen (dir geweissagt) werde, dir gleichgültig sei und
dich nicht berühre, wie es auch sein möge; denn es kann dir
ja niemand wehren, einen guten Gebrauch davon zu machen. Mutig
gehe zu den Göttern, wie zu den Ratgebern. Bedenke aber auch
dabei, wenn dir nun ein Rat zu teil ward, was für einen Ratgeber
du angerufen hast und wenn du ungehorsam wirst, wenn du nun
nicht Folge leistest.
Gehe aber zum Wahrsager, nach
der Vorschrift des Sokrates, nur in Dingen, wobei es auf den
Zufall ankommt, und weder die Vernunft, noch irgendeine Geschicklichkeit
die Mittel darbietet, den Fall zu beurteilen. So brauchst du,
wenn du für einen Freund oder für das Vaterland in Gefahr dich
begeben sollst, nicht erst den Wahrsager zu fragen, ob du es
tun sollst. Denn wenn dir der Wahrsager ankündigt, das Opfer
sei von schlimmer Vorbedeutung begleitet gewesen, so bedeutet
dies Tod oder Verstümmelung eines Gliedes oder Flucht, und doch
gebietet dir die Vernunft, auch unter solchen Umständen dem
Freunde beizustehen und mit dem Vaterlande die Gefahr zu wagen.
Achte darum auf den größeren Wahrsager Apollo selbst, welcher
den aus seinem Tempel trieb, der seinem Freunde, als er ermordet
wurde, nicht zu Hilfe geeilt war.
33
1) Vergegenwärtige dir einen
Charakter, ein Musterbild, wonach du zu leben dir vornimmst,
sowohl im privaten, als im öffentlichen Leben.
2) Beobachte meistenteils Stillschweigen,
oder sprich nur das Notwendige und auch dies mit wenigen Worten.
3) Nur selten, bei besonders
dazu auffordernden Verhältnissen, können wir uns in Reden einlassen,
aber nicht von Tagesneuigkeiten, nicht von Zweikämpfen, Pferderennen,
Athleten, Essen und Trinken, was die gewöhnlichen Gesprächsgegenstände
sind, am allerwenigsten von Menschen, sie tadelnd oder lobend,
oder mit einander vergleichend.
4) Kannst du es, so lenke stets
durch deine Reden deine Gesellschaft auf anständige Gegenstände;
bist du unter lauten Fremden, so schweige.
5) Lache selten, nicht über vieles
und nicht übermäßig.
6) Verweigere, wenn es möglich
ist, den Eid ganz, sonst soweit es sich tun läßt.
7) Gastmähler mit der großen
Menge und mit Ungebildeten vermeide. Kommt aber doch ein solcher
Anlaß, dem du nicht ausweichen kannst, so sei aufmerksam, daß
du nicht in Gewöhnlichkeit verfallest. Denn wisse, wenn einer
ein unsauberer Mensch ist, sowird auch der notwendig befleckt,
wie rein er gewesen sei, der sich mit ihm in Genossenschaft
einläßt.
8) Die körperlichen Dinge, wie
Speise, Trank, Kleidung, Wohnung, Dienstpersonal gebrauche bloß
nach Notdurft. Alles, was in das Gebiet des Luxus gehört, vermeide
gänzlich.
9) Des geschlechtlichen Verkehrs
enthalte dich soweit dir möglich; sonst bediene dich desselben
auf die gesetzliche Weise. Sei aber nicht unwillig oder tadelsüchtig
gegen die, welche sich seiner bedienen, und prahle nicht damit,
daß du dich seiner enthaltest.
10) Wenn dir jemand erzählt,
daß der oder dieser dir Böses nachrede, so verteidige dich nicht
gegen das, was man über dich sagte, sondern antworte: Die andern
mir anklebenden Fehler wußte er nicht, sonst hätte er nicht
bloß diese angeführt.
11) Spiele (Theater) öfters zu
besuchen, ist nicht notwendig (also auch zu vermeiden). verlangen
es aber die Umstände, einmal hinzugehen, so zeige kein besonderes
Interesse (nimm nicht Partei) und wünsche nichts anderes, als
das, was geschieht, und daß der siege, der wirklich siegt, so
wird dir, (auch im Theater) kein Hindernis (deiner philosophischen
Anschauung) begegnen. Enthalte dich ganz und gar, jemand zuzurufen,
zu belachen (beklatschen) oder in Aufregung zu kommen, und nach
dem Weggehen unterhalte dich nicht viel über das Vorgegangene,
insoweit es nicht zu deiner Besserung dient. Denn sonst würde
daraus hervorgehen, daß du das Schauspiel bewundert habest.
12) In die Vorlesungen mancher
Leute gehe nicht unbedachtsam und leichtsinnig. Wenn du aber
hingehst, so bewahre ein ernsthaftes und würdiges Wesen, immerhin
ohne damit jemand lästig zu fallen.
13) Wenn du dich mit jemand,
ganz besonders mit vornehmen Personen in Unterhaltung einlassen
willst, so stelle dir vor, wie Sokrates oder Zeno in diesen
Fällen sich benommen hätte, so wirst du nicht verlegen sein,
den eintretenden Umständen gemäß dich zu verhalten.
14) Gehst du zu einem Vornehmen,
so stelle dir vor, daß du ihn nicht zuhause treffen werdest,
oder daß man dir den Zutritt verweigere, daß dir die Türe vor
dem Gesicht zugemacht werde, oder daß er auf dich nicht achthaben
werde. Hältst du es dann trotzdem für deine Pflicht, zu ihm
zu gehen, so ertrage, was dir begegnet, und sprich niemals:
Es war nicht der Mühe wert, hinzugehen. So würde ein Ungebildeter
sprechen, der die Äußerlichkeiten zu hoch achtet.
15) Hüte dich davor, in Gesellschaften
häufig und weitläufig von deinen Taten und Gefahren zu sprechen,
denn wenn es auch dir angenehm ist, bestandener Gefahren dich
zu erinnern, so ist es anderen nicht so angenehm, davon zu hören.
16) Ebenso ferne sei es von dir,
Lachen zu erregen, denn das ist ein heikler Charakterzug, der
leicht zu Gemeinheit führt und die Hochachtung deiner Freunde
vermindert.
17) Gefährlich ist es auch, in
nicht anständigen Redegegenständen sich zu ergehen. Wenn etwas
von dieser Art in deiner Gegenwart vorkommt, so gib, sofern
es die Umstände gestatten, dem, der es sich zu schulden kommen
ließ, einen Verweis, oder zeige sonst durch Stillschweigen,
Erröten, unwilligen Ernst dein Mißfallen über solche Gespräche.
34
Tritt das Bild einer sinnlichen
Lust in deine Vorstellung, so laß dich, wie bei anderen sinnlichen
Einbildungen, nicht davon hinreißen, sondern die Sache soll
dir ein wenig warten. Nimm dir eine Frist zur Überlegung und
betrachte die beiden Hauptzeitpunkte, denjenigen, in welchem
du das Vergnügen genießen, und den andern, in welchem du nach
dem Genuß Reue empfinden und dich selbst heftig tadeln würdest.
Dem setze sodann die Vorstellung entgegen, wie du dich freuen
und dich selber loben wirst, wenn du dich enthalten hast. Scheint
es dir dennoch zulässig, dich mit der Sache einzulassen, so
hüte dich, nicht von dem Süßen und Lockenden derselben bezwungen
zu werden, sondern erwäge, wie viel besser das Selbstbewußtsein
sei, über sie einen Sieg erfochten zu haben.
35
Wenn du etwas nach bestimmter
Überzeugung, daß es getan werde müsse, tust, so scheue dich
nicht, es öffentlich zu tun, wenn auch die Menge (das Publikum)
darüber ganz anders denkt. Denn handelst du nicht recht, so
scheue die Tat; handelst du aber recht, was scheust du denn
die, welche dich mit Unrecht tadeln?
36
36 läßt Hilty mit der folgenden
Anmerkung aus: "36 enthält einen ziemlich umständlichen
philosophischen Syllogismus und eine höchst triviale Nutzanwendung,
dahingehend, daß man Mahlzeiten nicht bloß an seinen Magen,
sondern auch an den Anstand gegen den Wirt und die Tischgesellschaft
denken soll. An solchen Beispielen sieht man doch den Fortschritt
der allgemeinen Gesittung deutlich." 36 wurde mit einer
freien Übersetzung aus dem Englischen ergänzt.
Wie die Behauptung "Entweder
ist es Tag oder es ist Nacht" sehr sinnvoll als Unterscheidung
ist, es aber nicht "Tag und Nacht" gleichzeitig sein
kann, so ist es für den körperlichen Appetit sehr geeignet,
bei einem Fest das größte Stück auszuwählen, aber äußerst unvereinbar
mit dem sozialen Geist einer Bewirtung. Wenn Du mit anderen
isst, denke nicht nur an den Wert der Dinge, welche Deinen Körper
vorgesetzt werden, sondern auch an den Wert des Verhaltens,
welches von dem Gastgeber beobachtet werden wird.
37
Wenn du eine Rolle übernimmst,
der du nicht gewachsen bist, so machst du dir damit nicht bloß
Unehre, sondern du vernachlässigst auch eine andere, welche
du (mit Ehre) ausfüllen könntest.
38
Wie du dich beim Gehen in Acht
nimmst, nicht auf einen Nagel zu treten, oder nicht deinen Fuß
zu verrenken, so hüte dich, den besten Teil deines Ichs nicht
zu verletzen. Wenn wir das bei allen unseren Handlungen ins
Auge fassen, so werden wir sie mit mehr Sicherheit unternehmen.
39
Das Bedürfnis des Körpers ist
der Maßstab für den Besitz, wie der Fuß der Maßstab für den
Schuh ist. Bleibst du dabei stehen, so wirst du Maß halten,
gehst du darüber hinaus, so wirst du notwendig wie in einen
Abgrund gerissen. Gerade so, wie es mit dem Schuh ist. Wenn
du einmal das Bedürfnis des Fußes überschreitest, so kommt erst
ein vergoldeter, dann ein purpurner, dann ein gestickter an
die Reihe. Denn alles, was einmal über das Maß hinaus ist, hat
keine Grenzen mehr.
40
Die Frauenzimmer werden vom 14.
Altersjahr an von den Männern Herrinnen genannt. Da sie sehen,
daß sie kein anderes Verdienst als das der Schönheit haben,
so fangen sie an, sich auf den Putz zu legen und alle ihre Hoffnungen
auf den äußern Reiz zu setzen. Es wäre zweckmäßig, sie fühlen
zu lassen, daß sie sich mit nichts anderem Ehre verschaffen
können, als durch Anständigkeit, Schamhaftigkeit und Zucht.
41
Es ist ein Zeichen eines unedlen
Charakters, wenn man zu lange bei körperlichen Dingen verweilt,
zu lange zu essen, zu trinken u.s.w. Alle diese Dinge muß man
als überflüssiges behandeln; auf den Geist sei Zeit und Fleiß
gewendet.
42
Wenn dir jemand Böses tut oder
nachredet, so denke: Er handelt und spricht so, weil er meint,
er habe recht. Er folgt eben nicht deinen Begriffen, sondern
seinen, und wenn diese falsch sind, so hat er den Schaden davon,
indem er sich täuscht. Denn wenn jemand einen richtigen Schlußsatz
für falsch hält, so schadet dies nicht dem Objekt des Satzes,
sondern ihm, der sich irrt. Wenn du das stets bedenkst, so wirst
du dich sanftmütig gegen den benehmen, der dich beschimpft.
Sage dir deshalb bei jedem solchen Vorfalle: Es hat ihm so geschienen.
(Er spricht oder handelt, wie er's versteht.)
43
Jede Sache hat zwei Seiten, von
denen sie genommen werden kann. Von der einen ist die erträglich,
von der anderen nicht erträglich. Tut dir z.B. dein Bruder Unrecht,
so nimm es nicht von der Seite auf, daß er dich beleidigt -
das ist seine Handhabe, die für dich unfaßbar ist - sondern
von der Seite, daß er dein Bruder und Jugendfreund ist; dann
fassest du die Sache da an, wo sie hebhaft ist.
44
Folgendes sind falsche Schlüsse:
"Ich bin reicher als du, also bin ich vorzüglicher",
oder: "Ich bin beredter als du, folglich bin ich besser."
Schlüssig ist bloß dies: "Ich bin reicher als du, folglich
ist mein ökonomischer Zustand besser als deiner; ich bin beredter
als du, also ist meine Sprechweise besser als die deinige."
Du selber aber bist weder Besitz noch Ausdrucksweise.
45
Einer badet früher, als es gewöhnlich
ist; sprich nicht: er tut übel daran, sondern: er badet früh.
Einer trinkt viel Wein; sage nicht: er handelt unrecht, sondern:
er trinkt viel. Denn woher weißt du, daß er unrecht handelt,
bevor du seine ihn bestimmenden Gründe kennst? Dadurch wirst
du es vermeiden, nur von einem Teile der Dinge deutliche Vorstellungen
zu haben, andern aber blindlings zu folgen.
46
Niemals nenne dich selber einen
Philosophen, noch sprich bei Uneingeweihten von Grundsätzen,
sondern handle nach denselben. Z.B. bei jedem Gastmahle sprich
nicht davon, wie man essen soll, sondern iß richtig. Erinnere
dich, daß auch Sokrates alles Prahlerische auf diese Art von
sich abhielt. Es kamen Leute zu ihm, die den Wunsch hatten,
zu Philosophen zum Unterricht geführt zu werden; er führte sie
zu solchen und ertrug es, selbst übersehen zu werden.
Wenn daher bei Uneingeweihten
das Gespräch auf einen philosophischen Lehrsatz kommt, so schweige
meistens; denn es ist große Gefahr vorhanden, du möchtest etwas
von dir geben, was du noch nicht verdaut hast. Spricht dann
jemand zu dir: Du verstehst nichts und du lässest dich das nicht
anfechten, so wisse, daß du auf guten Wegen bist. Und wie die
Schafe das Gras nicht wieder ausspeien, um den Hirten zu zeigen,
wie sie geweidet haben, sondern das Futter verdauen und Milch
erzeugen, so zeige du den Uneingeweihten nicht deine Prinzipien,
sondern die aus ihnen hervorgehenden Handlungen, sofern du jene
wirklich verdaut hast.
47
Wenn du an eine einfache Lebensart
gewöhnt bist, so sei nicht stolz darauf. Trinkst du nur Wasser,
so sage nicht bei jedem Anlaß: Ich trinke Wasser, sondern bedenke,
wie viel kümmerlicher die Armen leben und wie viel sie ertragen;
und willst du dich einmal in Arbeit und Ausdauer üben, so tue
es für dich und nicht vor den Leuten. Umklammere nicht die Bildsäulen,
sondern wenn dich heftig dürstet, so nimm den Mund voll kaltes
Wasser, speie es wieder aus und - sage es niemand.
48
Die Art des Uneingeweihten (Nichtphilosophen)
ist die: Er erwartet nie Vorteil und Nachteil von sich, sondern
immer von äußeren Dingen. Die Art des Philosophen ist: Er erwartet
jeden Nutzen und Schaden von sich selbst. Die Kennzeichen, daß
jemand (in der Weisheit) Fortschritte macht, sind die folgenden:
Er tadelt niemand, lobt niemand, beklagt sich über niemand,
spricht nicht von sich, als ob er etwas sei oder wisse. Wenn
er in irgend etwas gehemmt wird, oder Widerstand erfährt, so
gibt er sich selbst die Schuld; lobt ihn jemand, so lacht er
bei sich über den Lobenden; tadelt man ihn, so verteidigt er
sich nicht. Er geht herum, wie ein noch Schwacher (ein Rekonvaleszent),
in Sorge, etwas von dem, was eben erst geheilt worden ist, ehe
es erstarke, wieder zu erschüttern. Alle Begierden (Wünsche)
hat er abgelegt; Abneigung gestattet er sich bloß noch bezüglich
der Dinge, die der Natur der in unserer Macht stehenden zuwider
sind; seine Willensregung ist stets gemäßigt; ob er für einen
Toren oder Unwissenden gehalten werde, bekümmert ihn nicht.
Mit einem Worte, er ist gegen sich selbst beständig auf der
Hut, wie gegen einen Feind und Verräter.
49
Wenn sich jemand berühmt, er
könne den Chrysipp verstehen und auslegen, so sprich zu dir
selbst: Wenn Chrysipp nicht dunkel geschrieben hätte, so hätte
jener nichts, um sich zu brüsten. Was will ich aber? Die Natur
kennen lernen und ihr folgen. Darum frage ich: Wer erklärt sie
mir? Und da ich vernehme, Chrysipp sei der Mann dazu, so gehe
ich zu ihm. Aber nun verstehe ich seine Schriften nicht. Gut,
so suche ich einen, der sie mir auslegt. Bis dahin ist nirgends
ein Grund, stolz zu sein. Habe ich einen Ausleger gefunden,
so muß ich von seinen Erklärungen Gebrauch machen; das allein
ist erheblich. Wenn ich aber nur das Auslegen selbst (die Gelehrsamkeit
dabei) bewundere (und darin Fertigkeit erlange), was bin ich
dann anderes als ein Grammatiker statt eines Philosophen geworden,
bloß mit dem Unterschied, daß ich statt eines Homer bloß den
Chrysipp auslegen kann. Lieber will ich erröten, wenn jemand
mir sagt: Lies mir den Chrysipp vor, wenn ich nicht Taten aufweisen
kann, die seinen Aussprüchen ähnlich sind und mit ihnen übereinstimmen.
50
Bei dem, was hier gelehrt wird
(bei der stoischen Lehre), beharre wie bei Gesetzen und wie
wenn du gottlos handeltest, wenn du je etwas davon übertreten
würdest. Kehre dich nicht daran, was man auch deshalb über dich
reden mag; das geht dich gar nichts mehr an.
Wie lange verschiebst du es,
dich des Besitzes der größten Güter würdig zu achten und in
nichts mehr unvernünftig zu handeln (die unterscheidende Vernunft
zu verletzen)? Du hast die Lehrsätze gehört, nach denen du dich
bilden sollst - du hast sie angenommen. Welchen Lehrer erwartest
du nun noch und willst deine Verbesserung bis auf ihn verschieben?
Du bist kein Jüngling mehr, sondern ein erwachsener Mann. Wenn
du nicht immer noch vernachlässigst und sorglos dahin lebst,
immer Aufschub auf Aufschub, Vorsatz auf Vorsatz häufst und
immer einen Tag nach dem andern bestimmst, von dem an du auf
dich achten wolltest, wirst du unvermerkt zu gar keinem Fortschritte
gelangen und als Ungebildeter leben und sterben.
Darum halte dich nun für würdig,
als ein vollkommener Mann zu leben und als einer, der Fortschritte
macht. Was dir als das Rechte erscheint, laß dir ein unverbrüchliches
Gesetz sein. Begegnet Mühsal dir und Schmach, so denke, daß
jetzt die Zeit des Kampfes ist, daß die olympischen Spiele da
sind und kein Verschub mehr stattfindet, und daß durch Niederlage
oder Nachlassen dein Fortschreiten gehemmt, umgekehrt aber glücklich
gefördert wird.
So wurde Sokrates ein vollkommener
Mann, indem er sich in allen Dingen dazu anhielt, nichts anderem
als der Vernunft zu gehorchen. Du aber, wenn du auch noch nicht
Sokrates bist, mußt du doch leben wie einer, der ein Sokrates
werden will.
51
Der erste und notwendigste Teil
der Philosophie ist der, welcher Lebensregeln enthält, z.B.:
"Du sollst nicht lügen." Der zweite ist der von den
Beweisen (dieser Regeln), z.B.: "Warum soll man nicht lügen?"
Der dritte der, welcher beide vorangehende bestätigt und erklärt,
z.B. warum dies einen Beweis bilde, was ein Beweis sei, was
eine Schlußfolgerung, was ein Widerspruch, was ein wahres oder
ein falsches Urteil. Darum ist der dritte Teil um des zweiten
und der zweite um des ersten willen vorhanden; der notwendigste,
der den Ruhepunkt des Ganzen bildet, ist der erste. Wir hingegen
kehren es um; wir halten uns bei dem dritten Teile auf und wenden
allen unseren Fleiß darauf; den ersten vernachlässigen wir gänzlich.
Daher kommt es denn, daß wir lügen, während wir den Beweis dafür,
daß man nicht lügen soll, stets bei der Hand haben.
52
Immer müssen wir folgende Gedanken
in Bereitschaft haben: 1) "So leite mich, o Zeus, und
du, o Schicksal,Wohin mir euer Wink zu gehn befiehlt; Ich bin
bereit zu folgen; wollt' ich nicht, So wär' ich feig und müßte
dennoch folgen." 2) "Wer der Notwendigkeit sich
gerne fügt, Der ist ein Weiser und erkennet Gott." 3)
"Kriton, ist es den Göttern so recht, so geschehe es also;
Töten können mich wohl Amt und Melitos, Aber mir schaden, das
können sie nicht."
Übersetzer: C. Hilty
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