Robert Volkmann


Der Blick auf die Geschichte verführt dazu, Grösse, gar Genie, mit wenigen Persönlichkeiten zu verbinden. Wenn wir auf die Musik des 19. Jahrhunderts zurückblicken, so tauchen aus dem Nebelmeer der Zeit die überlebensgrossen Standbilder Beethovens und Brahms', Schumanns und Mendelssohns auf. Die Geschichte hat, zu Recht, die gewaltige Schöpferkraft dieser Geister anerkannt und sie für ewige Zeiten in den Pantheon der Musik gerückt. Aber der Strahlenglanz, der von ihnen ausgeht, verstellt nur allzu leicht den Blick dafür, dass das Rühmenswerte, das uns bis heute überkommen ist, nicht das Genie ist, der der Person innewohnte, sondern das, was davon seinen Niederschlag in ihren Schöpfungen gefunden hat. Grösse, soweit sie uns betrifft, sollte nicht als Eigenschaft einer Person angesehen werden, sondern eines Werkes, das alleine uns zugänglich ist, und die Bedeutung, die wir diesen Schöpfern beimessen, ist weder Bedingung noch Garant für das Genialische, das einem bestimmten Werk innewohnen mag.

Doch jener Strahlenkranz hat das Urteil der Nachwelt geblendet. Wie sie ein einzelnes Werk aufgenommen hat, das hing eben nicht nur von den Qualitäten ab, die ihm selbst innewohnen, sondern von der mystischen Aura des Genies, das seinen Schöpfer umgibt; die Rezeptionsgeschichte populärer Musik unserer Tage bietet ja ein noch extremeres Beispiel dafür, dass das Publikum nicht so sehr an Werken interessiert ist, als an Götzen. Auch wenn heute eine Aufführung von Beethovens Neunter mancherorts zur alljährlichen Tradition erstarrt ist wie das Sylvesterfeuerwerk, dann geschieht das nicht mehr zum Preise der Musik, sondern ist zum sinnentleeren sakralen Akt geworden, zur liturgischen Handlung, zum Götzendienst am Genie und Seiner Botschaft.

In unserem Rausch über jene an sich sehr wohl rühmenswürdigen hohen Geister aber übersehen wir, dass ihre Werke eingebettet sind in einen unübersehbar reichen Strom von Schöpfungen ihrer Zeitgenossen, von denen den meisten, aus Gründen, die, wie zu befürchten ist, eben nicht nur auf der Qualität ihres Schaffens beruhen, von der Rezeptionsgeschichte nicht jene überlebensgrosse Statur zuerkannt wurde. Dabei besitzen die inspiriertesten unter diesen Schöpfungen oft nicht weniger Grösse und Erhabenheit als andere, die nur deshalb fester Bestandteil unseres Konzertlebens geworden sind, weil ihre Verfasser eben einen illustreren Namen trugen. Werke von Norbert Burgmüller, Hans Rott und Richard Wetz kommen da in den Sinn. In keinem dieser Fälle ist ihre Missachtung durch die Nachwelt durch die Qualität ihrer Schöpfungen zu erklären. Die wankelmütige Nachwelt versagte ihnen aus anderen Gründen die Erhebung in den musikalischen Pantheon.

Robert Volkmann ist einer derjenigen, bei denen das grösste Missverhältnis zwischen der Bedeutung ihrer Werke und seiner Anerkennung durch die Nachwelt des 20. Jahrhunderts besteht. Nicht nur mit stets solider Technik, sondern mit wahrer Inspiration und einer eigenen Stimme weiss er tiefsinnige Dinge zu sagen. Zu Lebzeiten, als die Geschichte noch nicht ihre ehernen Standbilder gegossen hatte, sondern man noch dem Werk an sich Achtung zollte, da war er sich der Anerkennung, Bewunderung, Freundschaft und Förderung der namhaftesten Musiker Europas sicher - Brahms, Tschaikovsky, Dvorak, Liszt, von Bülow, Joachim, Wagner, Draeseke. Und auch noch Jahrzehnte nach seinem Tode wurde sein Schaffen von dessen wenigen verbliebenen Kennern zu recht gerühmt, auch wenn es nach der Jahrhundertwende plötzlich aus den Konzertsälen verschwunden war.  Erst in jüngeren Jahren ist, vor allem dank der Bemühungen des deutschen Labels CPO, der Beginn einer Volkmann-Renaissance zu beobachten. Obwohl sein Opus-Katalog nur bis zur Nummer 75 reicht, sind unter ihnen gleich eine ganze Schar ausserordentlich wertvoller, individueller und wahrhaft inspirierter Schöpfungen zu finden. Das Cellokonzert sei da genannt, die Symphonien, die Richard-Ouvertüre, die Quartette und das zweite Klaviertrio, die Händelvariationen, und viele andere, die die Entdeckung reichlich lohnen.

Stilistisch können wir Volkmann nur schwerlich einer bestimmten Schule zuordnen oder ihn gar einem berühmteren Zeitgenossen vergleichen, gerade sein eigener, unverwechselbarer Stil ihn über blosses Epigonentum hinaushob. Am ehesten könnten wir ihn auf der Linie finden, die von Beethoven über Mendelssohn und Schumann (von denen wohl die bedeutendsten direkten Einflüsse auf Volkmanns musikalische Entwicklung ausgingen) zu Brahms verläuft. Er selbst bekundete mehrfach, dass seine Liebe besonders Mozart und Beethoven gelte. Merkwürdigerweise gewann er selbst sich jedoch in einer Zeit, da das Musikleben von wachsenden Antagonismen zwischen der klassizistischen Linie von Brahms und Joachim und der Neudeutschen Schule um Liszt geprägt war, Respekt und Anerkennung aus beiden Lagern. Brahms dirigierte Volkmanns Werke, Liszt setzte sich für seine Berufung an die Landes-Musikakademie in Budapest ein. An den ideologischen Grabenkämpfen, die damals zwischen diesen beiden musikalischen Denkrichtungen tobten, nahm Volkmann nicht teil.
 

 

"[Der] Streit zwischen 'Klassizisten' und 'Neudeutschen' [hatte] damals einige Höhepunkte erklommen [...]. War doch [...] 1860 jene berühmte und berüchtigte 'Erklärung' gegen das 'Treiben einer gewissen Partei', unterzeichnet von Brahms, Joachim, Grimm und Scholz, an mutmasslich Gleichgesinnte zur Signierung versandt und vorzeitig publik geworden. Auch Volkmann hatte ein Exemplar erhalten, aber weise wie er war, allem Spektakulösen abhold und immer bereit, auch andere Vögel nach ihrem Gusto singen zu lassen, hatte er dazu geschwiegen; die Erklärung fand sich unsigniert in seinem Nachlass."

Hans Clauß, Gustav Nottebohms Briefe an Robert Volkmann, p. 67

 

 

 

Volkmanns Gestus und Ausdruck, die Kühnheit seiner Harmonik in manchen Werken wie der "Richard"-Overtüre, die Zartheit vieler seiner Melodien, und die formalen Freiheiten, die er sich dann nahm, wenn sein musikalisches Material es zu erfordern schien - im b-moll-Trio etwa, oder im Cellokonzert -, sind die eines Romantikers. Modernität betrachtete er als eine Tugend für die Musiker seiner Tage.  Diese Flexibilität rückt ihn in die Nähe der Neudeutschen Schule und trug ihm die Anerkennung und Föderung des Liszt-Kreises ein.

 

 

 

"An allen drei besprochenen Symphonien ist noch zu rühmen, dass moderner Geist in ihnen herrscht, dass sie demnach ein Haupterfordernis lebensfähiger Musik erfüllen."

Robert Volkmann anlässlich einer Beurteilung mehrer für einen Wettbewerb eingereichter Symphonien, 1862.

 

 

Und doch findet sich unter seinen Hauptwerken nur ein einziges, das explizit programmatisch wäre. Zeitlebens hielt er die absolute Musik, die Musik, die aus sich selbst und für sich selbst lebt und keinem aussermusikalischen Zwecke dient, hoch. Er pflegte die Kunst des Kontrapunkts. Und so wie er sich auch im persönlichen Umgang stets bescheiden zeigte, fand er auch in seinen Werken immer das richtige Mass; er vermied Exzesse und dehnte sein musikalisches Material nie über Gebühr. Die Effekthascherei der Lisztschen Schule war ihm fremd. So erwarb er sich die Anerkennung der klassizistischen Schule und wurde zu einem Bindeglied zwischen Beethoven und Brahms.
 

 

"Ich will ja nun weder diese Piece noch andere Elementarstücke in ihrem Werthe verdächtigen, es giebt ja derlei Werke, welche eine überwältigende Wirkung ausüben; da Sie aber, wie mir fast scheint, die elementare Wirkung als höchsten Vorzug eines Musikstücks ansehen, so bin ich au controleur der Ansicht, dass manches kleine, stille Andante mehr poetischen Werth hat, als viele Elementar- und Erdbebenstücke."

Robert Volkmann an Johannes Batka, 1872 (über den ‘Marche au supplice’ aus Berlioz’ Symphonie Fantastique)

 

 

Das bedeutet nicht, dass seine Musik keine dramatischen Höhepunkte kennt (davon zeugen Werke wie der "Richard", die 1. Symphonie, die Klavierphantasie, "An die Nacht", gar manches Lied und andere), doch wenn solche auftreten, so ist stets auch die musikalische Substanz präsent, um sie zu stützen, und wenn er in manchen Werken mit der musikalischen Form experimentierte, so nur deshalb, weil sein musikalisches Material dies nahezulegen schien, und nicht, um sein Werk in das Gerüst einer aussermusikalischen Ideologie zu zwängen. Er fühlte sich weder gezwungen, in alten Geleisen zu schreiten, noch, sie bewusst zu meiden; die Wahl der Form war ihm stets nur ein Dienst an der Musik, die für ihn Mittel des persönlichen Ausdrucks war, kein Schlachtfeld der Ideologien.
 

 

Die Einen halten mich immer noch für einen Zukunftsmusiker, während Andere einen Zopf an mir sehen wollen; was ist Ihre Meinung? Ich weiss nur so viel, dass ich weder Zukünftler noch Zopf sein will, sondern blos Volkmann, und das ist mein Malheur, so 'ne Gesinnungslosigkeit verzeiht man schwer. Ich glaube ohne Vorurteil zu sein (nämlich in rebus music.), weil ich die guten Leistungen jeder Partei anerkenne, soweit mein Urteil reicht; aber ein echter Parteimann tadelt das, und so bin ich zu beklagen."

Robert Volkmann an Edmund Singer, 1864

"Sie sehen, ich habe Programmusik gemacht, doch will ich dem Publikum kein Programm in die Hand gegeben wissen, denn wenn die Ouvertüre als Musikstück nicht befriedigt, hat sie doch nur einen zweifelhaften Wert."

Volkmann an Otto Dessof über die Ouvertüre zu "Richard III.", 1870

 

 

Diese Offenheit und Flexibilität spiegelt sich nicht nur in den Formen, die wir antreffen, sondern auch in der grossen Vielfalt der Charaktere und Stimmungen, die wir in seinen Werken beobachten. Dabei sollten wir jedoch nicht herauszuheben säumen, dass Volkmann dem tragischen und düsteren Element in der Musik eine besondere Bedeutung beimass.
 

 

"Leider gewinn sich das Düstere, welchem manche Kritiker sogar die Berechtigung in der Musik absprechen möchten, nur langsam Freunde; ich habe das bei dem B-Moll-Trio erfahren, bei dem F-Moll-Quartett habe ich noch nicht einmal diese Erfahrung begonnen, ausser in Pest."

Robert Volkmann, Notizen zu einem Brief an Louis Ehlert, 1868

"Bei oberflächlicher Betrachtung des Sujets mag dasselbe der musikalischen Behandlung widerstrebend erscheinen; in der Tat sind der Tonkunst die Mittel versagt, das gemeine Laster darzustellen, den dritten Richard als Wüterich und Mörder zu zeichnen; aber der Richard Shakespeares ist, sozusagen, ein höherer Verbrecher, eine dämonische Natur, und das Dämonische ist eine Domäne der Musik."

Volkmann  über die "Richard III."-Ouvertüre an Ludwig Hartmann, 1874

 

 

Doch ist das Düstere nur ein Aspekt seines Schaffens. Der höchst dramatischen, beethovenisch-titanischen Ersten Symphonie steht die haydnsch-heitere Zweite gegenüber. Das Erste Trio mit seinem klassischen Charme findet einen Kontrapunkt in dem tragischen, formelle Grenzen sprengenden Meisterwerk, das das Zweite Trio ist. Dem Richard mit seinen dramatischen Höhepunkten und seiner kühnen Harmonik bildet die klare und unbeschwerte C-Dur-Ouvertüre einen Kontrast. Überall herrscht ein grosser, manchmal verschwenderischer Reichtum an Ideen. Es gibt Themen von schwelgerischer Schönheit - die Friedensvision am Ende der Richard-Ouvertüre, die in ihrer Wirkung kaum weniger erhebend ist als der Schluss von Wagners Ring-Zyklus, oder einige Stellen des Cello-Konzertes etwa. Andere Themen erscheinen simpler, aber gerade an solchen rühmte Peter Tschaikovsky insbesondere den "einfachen, ungekünstelten Charme" von Volkmanns Werken. Nicht zuletzt zeugen seine Werke für Violoncello von seiner Hingabe und Begabung für dieses, sein Lieblingsinstrument.
 

 

"Überblickt man die Tonschöpfungen Volkmanns im ganzen, so fällt deren grosse Verschiedenartigkeit auf. Fast alle Gattungen der Musik hat er mit Werken bedacht. Sein reger, überall heimischer Geist trieb ihn, sobald ihm auf dem einen Gebiet ein Meisterstück gelungen, auf ein anderes. Und ebensowenig wie in der Form, wiederholte er sich im Gedankengehalt. Wir konnten nur auf Verwandtschaft, nie auf Wesensgleichheit zweier Ideen in seinen Kompositionen hinweisen. Zu dieser Vielseitigkeit in Form und Inhalt gesellt sich schliesslich noch die der Ausdrucksmittel. Von den reichsten bis zu den bescheidensten verwendet er sie und immer wählt er die dem Vorwurf entsprechenden."

Hans Volkmann, Robert Volkmann - Sein Leben und seine Werke

 

 

Volkmanns Werkverzeichnis ist überschaubar. 75 Opusnummern umfasst es, zumeist Klavierwerke. Doch befinden sich unter seinen Kompositionen überraschend viele, von denen man sagen muss, dass sie nicht nur zum Besten gehören, das ihr Komponist schuf, sondern wertvolle und wichtige Bereicherungen ihres jeweiligen Repertoires darstellen. Dazu gehoren die Symphonien (besonders die Erste), das Zweite Klaviertrio, die Händel-Variationen, das Cello-Konzert, die Richard-Ouvertüre, das Weihnachtslied. Und noch sind selbst einige seiner umfangreicheren und bedeutenderen Werke auch nicht mit einer einzigen Aufnahme in den Diskographien vertreten - das Weihnachtslied, die komplette Bühnenmusik zu "Richard III.", die Fest-Ouvertüre, "An die Nacht", "Sappho".

Dabei erfreuten sich Volkmanns Werke noch einige Jahre nach seinem Tode gewisser und noch steigender Popularität. Hans Volkmann weiss davon in seiner ersten Volkmann-Biographie aus dem Jahre 1903 zu berichten. Aber schon 1910 beklagt Max Kalbeck in seiner Brahms-Biographie, dass Volkmanns Kompositionen zu Unrecht aus den Konzertsälen verschwunden seien.

Volkmann ist kein Stoff, aus dem die Legenden sind. Er wandelte nicht, wie Schumann, zwischen Genie und Wahnsinn. Er war kein janusköpfiges Wunderkind wie Mozart. Kein tauber Revolutionär wie Beethoven. Kein früh verstorbener Schwanensänger wie Schubert. Keine gequälte Seele mit einem mythenumrankten Tod wie Tschaikovsky. Unideologisch wie er war, taugte er auch nicht als Exponent ideologischer Antagonismen wie Brahms und Wagner. Sein Leben war nicht frei von Entbehrungen und Enttäuschungen, im Ganzen, aber, wie Hans Volkmann feststellt, ein vom Glück gesegnetes. Aus seinem Lebenslauf lässt sich kein romantisch-verklärbares Genie destillieren, mögen auch viele seiner Kompositionen das Prädikat genialisch verdienen.

In einem Jahrhundert, in dem Götzen, Idole und Ideologien den Blick auf das Werk an sich verstellten, war das vielleicht nicht genug. Und doch liefert die Betrachtung seines Werkes ein wunderbares Beispiel dafür, das glänzende Handwerkskunst, seelische Inspiration und gedankliche Tiefe nicht nur den als Genies verklärten Geistern innewohnten, sondern dass auch die heute zu unrecht vernachlässigten Meister wie Volkmann ihrer reichlich teilhaftig waren und sie glücklicherweise in vielen Werken mit der Menschheit teilten.
 

© Daniel Christlein, 2002


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