Donna Leon: Venezianische Scharade

Commissario Brunettis dritter Fall

Die Amerikanerin Donna Leon hat Italien und Venedig zu ihrer neuen Heimat gemacht. Seit 1991 schreibt sie kluge und stimmungsvolle Kriminalromane, in denen sie ihre Beobachtungen des Lebens verdichtet und mit Kommentaren ergänzt.

Nach „Venezianisches Finale“ und „Endtation Venedig“ ist jetzt „Venezianische Scharade“ auf deutsch erschienen. Wiederum lässt Donna Leon Commissario Brunetti auftreten, dr nun schon seinen dritten Literatur gewordenen Fall zu lösen hat. Dieser Brunetti ist eine grossartige Erfindung. Obwohl von einer Amerikanerin kreiert, hat er nichts von einem Thriller-Cop an sich. Brunetti geht auf die fünfzig zu, er macht seine Arbeit loyal und zuverlässig, aber lieber als ins Büro geht er nach Hause, zu Frau und Kindern. Seine Paola und küsst er gerne auf den Nacken und nachts im Bett erzählt er ihr von seinen Fällen und hört sich ihre von keinerlei Theorien getrübten Meinungen an. Er lässt seine halbflüggen Kinder Raffaele und Chiara an der langen Leine erwachsen werden, was ihm diese mit ungebrochener Zuneigung danken. Ja, Guido Brunetti ist ein guter Gatte und ein guter Vater. Und die Kriminalromane, deren Held er ist, sind immer auch Geschichten aus dem Leben einer Familie, die man als Leser nach jedem Buch mehr mag. Denn Donna Leon, die in Venedig lebende amerikanische Schriftstellerin, nimmt sich immer wieder Zeit, die häusliche Seite ihres beamteten Detektivs zu zeigen. Doch Brunetti ist nicht einfach als Biedermann gezeichnet. Er kennt die Welt nur allzu genau. Ihn überrascht schon kaum mehr etwas. Schon gar nicht die immer wieder sichtbar werdenden Spuren der Korruption. Die Leute sind nun mal bestechlich, lassen sich einschüchtern und helfen mit beim Vertuschen. Da kann es kaum verwundern, dass sich die Fälle nicht wirklich befriedigend lösen lassen. Recht und Gerechtigkeit, das weiss Brunetti, sind relative Grössen. Zum Zyniker ist er trotz dieser Einsicht nicht geworden. Vielmehr zu einem Philosophen, der Tacitus liest und dabei lernt, dass die Verhältnisse im alten Rom auch nicht viel anders waren als im Italien von heute. Schon in seinem ersten Fall, von Donna Leon mit „Venezianisches Finale“ betitelt, muss Brunetti lernen, dass Recht und Unrecht nicht für alle dasselbe sind. Und in „Endstation Venedig“ musste er erkennen, dass die Ermittlungen eines Commissario dort ihre Grenzen haben, wo der Einflussbereich der Mafia oder des amerkianischen Militärs beginnt. In „Venezianische Scharade“, 1994 unter dem englischen Titel „Dressed for Death“ erschienen, gelingt es Brunetti immerhin, die kriminellen Machenschaften der „Lega della Moralità“ an den Tag zu bringen. Dem windigen Anwalt Santomauro will das Gericht den Mord an einem Stricher freilich nicht nachweisen. Die Opfer sind immer wieder die Aussenseiter der Gesellschaft. Für Transvestiten oder Strichjungen kann sich Brunetti persönlich zwar nicht begeistern, aber er sieht in ihnen immerhin Menschen, häufig bessere Menschen als in den Grossen von Gesellschaft und Politik. Dieser Blick auf das Menschliche, der Respekt auch für die Kleinen und Schwachen und die Kritik an den sozialen und politischen Unzulänglichkeiten heben die Kriminalromane von Donna Leon über den Durchschnitt hinaus. Was nicht heisst, dass die Brunetti-Geschichten weniger spannend wären als andere Thriller. Ganz im Gegenteil: zu den gut und glaubhaft gebauten Plots und den spannenden Szenen kommt das Interesse an den geschilderten sozialen Verhältnissen. Insofern bietet Donna Leon ihren Lesern einen literarischen Mix, wie es ihn seit Georges Simenon wohl nicht mehr gegeben hat.

Urs Dürmüller

Donna Leon. Venezianische Scharade. Commissario Brunettis dritter Fall. Diogenes 1996. 373 Seiten. Fr. 39.-


Donna Leon: Acqua Alta

Brunettis fuenfter Fall

In Brunettis fünftem Fall zieht Donna Leon eine Schlaufe zurück zu ihrem ersten Venedig-Krimi. Eine der Hauptfiguren ist die Operndiva Flavia Petrelli, die, man erinnert sich, in der Oper von La Fenice sang, als dort der Dirigent Wellauer ermordet wurde. „Aqua Alta“ spielt jedoch nicht in und hinter den Kulissen des Operntheaters wie „Venezianisches Finale“, sondern in Privatwohnungen, im Museum, in einem Palazzo und - dies vor allem - im knöcheltiefen Wasser. Venedig ausserhalb der Touristensaison ist grau, kalt und nass. Die Menschen husten und sehnen sich nach einem Schluck heissen Espresso. Wer auf die Strasse muss, kriegt kalte Füsse, muss über Notstege turnen und wird unweigerlich nass und klamm. Diese Seite des venezianischen Alltags hat die Wahlvenezianerin Donna Leon bisher noch nicht beschrieben. Jetzt ist sie in ihrem Vorhaben, die Lagunenstadt vollständig und wahrheitsgetreu in ihre Geschichten einzubringen, ein gutes Stück weiter vorangekommen. Etwas grau und stumpf ist allerdings auch die Krimifabel geworden, die sich Donna Leon für „Acqua Alta“ ausgedacht hat. Die Figuren von Flavia Petrelli, der Sängerin, und Brett Lynch, der amerikanischen Arechäologin, sind zwar gut gezeichnet, und die lesbische Verbindung der beiden Frauen wird taktvoll und unspektakulär vorgeführt; doch der alte, kunstverrückte La Capra, sein gewälttätiger Sohn und die mafiose Entourage der beiden Sizilianer sind unorigenelle Figuren aus dem Billigangebot der Schundliteratur. Da ist man dankbar, dass Guido Brunetti noch nicht pensioniert ist. Der Commissario ist der Lichtblick in dieser Geschichte von Erpressung, Entführung, Kunstschmuggel und knochennässender Gewalttäigkeit. Zwar scheint die Sonne nicht in diesem nebligen und regenerischen Venedig, aber Brunettis Gemüt und seine umfassende Menschlichkeit wärmen das Herz des Lesers selbst wenn ihn die Agenten des Bösen schrecken und er mit ihren Opfern friert und schlottert.

Urs Dürmüller

Donna Leon. Acqua Alta. Commissario Brunettis fünfter Fall. Diogenes. 371 Seiten. Fr. 39.-