ROMEO UND JULIA ALS POPIGE LIEBESGESCHICHTE

Knapp zwanzig Jahre nach Franco Zeffirelli hat der Australier Baz Luhrmann die berühmteste Liebesgeschichte der Weltliteratur erneut verfilmt. Shakesperaes "Romeo and Juliet" besteht auch diesen Pop-Art-Test. Ab morgen im neueröffneten Kino Splendid.

Der Anfang ist hochdramatisch: abrupte Schnitte, Zooms im Blitztempo, schrille Musik, chaotische Bilder. In Verona Beach herrscht Krieg. Der mafiose Clan der Capulets gegen den ebenso mafiosen Clan der Montagues. Von den Alten wird der Krieg auf Geschäftsebene ausgetragen, von den Jungen aber auf den Strassen und am Strand. Es sind die Low-Rider-Gangs von heute, die uns Baz Luhrmann hier vorführt, aufgeputscht mit Drogen und Musik, ausgestattet mit glitzernden Pistolen, kostümiert für ein Leben als Show. Die Montagues in den farbenfrohen Hawaii-Shirts der Vietnam-Heimkehrer, die Capulets in körperbetonten Designerklamotten von Dolce & Gabbana. Shakespeares italienisches Verona verwandelt in ein amerikanisches LA oder Miami Beach. Gefilmt freilich hat Luhrmann nicht in den USA, sondern in Mexiko. Das pulsierende Mexico City gibt den Background für die Business-Imperien der beiden in Konkurrenz stehenden Familien. Der Chapultepec-Palast ist gerade recht als Familiensitz der neureichen Angeber. Die monumentalen barocken und neogotischen Statuen und Kirchen der Stadt markieren die Schauplätze für Heirat und Tod von Romeo und Julia. Und im vergammelten Veracruz am Golf von Mexico verliert Mercutio sein Leben. Luhrmann erzählt die Geschichte von der Liebe zwischen Romeo und Julia, dieser Kinder zweier verfeindeter Familien, als sensationelle TV-News-Story. Mal ist es eine Stassenschlacht, dann ein grosses Familienfest, dann die bevorstehende Heirat Julias mit dem "Junggesellen des Jahres", oder die Verbannung des zum Mörder gewordenen Romeo aus der Stadt, schliesslich der durch unglückliche Umstände herbeigeführte Tod der beiden Liebenden, die bekannt gemacht werden wollen; die Story von den "star-crossed lovers" ist tatsächlich ergiebig und durchaus angetan, die Zuschauer vor den Fernsehschirm zu locken. Beziehungsweise ins Kino. Denn Luhrmanns popig-knallige Verfilmung der 400 Jahre alten Tragödie hat das Zeugs zum Leinwandhit. Nicht nur ist der Streifen ein Genuss für alle Freunde der Pop-Art, des stilisierten Kitschs und der inszenierten Zitate, auch der Anhänger Shakespeares wird nicht enttäuscht. Denn unter den vielen Schildern, Figuren, Objekten und Abbildern, welche Luhrmann der Kamera bei ihren schnellen Fahrten in den Weg stellt, befinden sich nicht nur Icons unserer heutigen Kulturszenerie, sondern auch gar manche, die an die Theaterwelt des grossen elisabethanischen Dramatikers erinnern. Da heisst ein heruntergekommenes Kino "Globe Theatre", ein Souvenirshop "The Merchant of Verona Beach" und ein Restaurant "Rosencratzy's"; es gibt Werbung für eine "Shylock Bank" und für "Prospero Whiskey". Das Wichtigste aber ist, dass Luhrmann Shakespeares Stück werkgetreu verfilmt hat und den Text zwar gekürzt, aber im übrigen unverändert beibehalten hat. Die popig-moderne Umgebung erweckt das elisabethanische Englisch recht eigentlich zum Leben. Bei den Street Kids, die ihren Shakespeare ohne den gestelzten Oxford-Akzent sprechen, tönen die alten Verse nicht exotischer als manch anderer Jugend-Slang und sicher verständlicher als die Sprache der ausgeflippten Jungs in "A Clockwork Orange", jenem ebenfalls popig gestylten Film von Stanley Kubrick, den einige von Luhrmanns Szenen in Erinnerung rufen. Wenn Romeo und Julia zusammen sind, ihre Liebe entdecken, ihre Liebe feiern und für ihre Liebe sterben, dann drosselt Luhrmann das Tempo und lässt der Poesie den Vortritt. Leonardo DiCaprio und Claire Danes, die jungen Darsteller des Liebespaars, sprechen ihren Text mit heutiger amerikanischer Aussprache und produzieren dennoch Lyrik. Luhrmann holt Shakespeare vom hehren Klassiker-Gestell, wo er seit langem weilte, und stellt ihn wieder dorthin, wo er ursprünglich hingehörte, in den Alltag, mitten ins Volk. Und da liegt der grosse Unterschied zu Franco Zeffirellis gefeierter "Romeo und Julia"- Film von 1978. Zwar hatte auch der Italiener die Rollen der beiden Teenagers sehr jung besetzt, aber im übrigen zelebrierte er einen hehren, wenn auch wunderschönen Shakespeare im historischen Kostüm. Der Australier Baz Luhrmann dagegen kümmert sich einen Deut um die Aufführungstraditionen. Statt Degen ziehen seine Figuren Pistolen, statt in Kleidern aus einer andern Zeit stecken sie in den Kostümen des permanenten Lebenskarnevals von heute. Statt die Anspielungen Shakespeares auf Trends und Traditionen seiner eigenen Zeit mit Anmerkungen für uns Heutige zu versehen, führt er uns einen ganzen Basar uns bekannter Kulturartikel vor: Transvestiten ebenso wie Pflanzenesoteriker, hysterische Party-Hyänen ebenso wie cholerische und bierbäuchige Väter. Statt eine szenische Aufführung abzufilmen, inszeniert Luhrmann ein gewaltiges Spektakel, das so nur im Film, nie und nimmer jedoch auf dem Theater möglich ist. Luhrmanns "Romeo and Juliet" ist deshalb die erste wirkliche genregerechte Fassung dieser bekanntesten aller tragischen Liebesgeschichten.

Urs Dürmüller