III. Kapitel
DIE REICHE DER WEISSEN BARBAREN

1691 bis 1920:

Die europäische Geschichte bis zum Beginn der Französi-
schen Revolution ist durch die Rivalität Frankreichs mit Habs-

burg und in Übersee durch den Kampf um die koloniale Vor-
machtstellung gekennzeichnet. Entscheidendes Datum auf
dem amerikanischen Kontinent ist das Jahr 1783, als England
die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten Nordamerikas an-
erkennt. Zu dieser Zeit beginnt auch die Ausrottung der nord-
amerikanischen lndianer. In Südamerika endet 1824 mit der

Schlacht von Ayacucho die Geschichte der spanischen Kolo-
nien. Antonio Josä de Sucre, ein Kommandeur der » Patrioten«

Simon Bolivars, schlägt die spanischen Söldnertruppen ver-
nichtend. Es bilden sich zahlreiche unabhängige Republiken
heraus, darunter Peru, Ekuador, Bolivien und Chile. Brasilien

ruft1822 die Unabhängigkeit von Portugal aus. Im selben Jahr
beginnt die Cabanagem, die größte sozialrevolutionäre Bewe-
gung in der brasilianischen Geschichte. In dreijährigem Krieg
unterliegen die von Angel im angeführten aufständischen Me-
stizen und Indianer den Truppen der Zentralregierung. Zwei
Drittel der Bevölkerung Amazoniens werden ausgerottet. Um
1870 setzt der erste Gummiboom ein. In vierzig Jahren sam-
meln 150000 Siedler aus demi Nordosten 800 Millionen Kilo

Gummi. 1903 tritt Bolivien nach einem blutigen Grenzstreitdie
Provinz Acre gegen zwei Millionen englischen Pfund an Bra-
silien ab. 1915 sinken die Gummipreise durch die Konkurrenz
englischer Plantagen in Malaysia um die Hälfte. Die wirt-
schaftlicheAusbeutung Amazoniens wird vorläufig eingestellt

I4I

DER ZERFALL DES REICHES

Das Volk der Ugha Mongulala ist jetzt ein kleines Volk.
Aber es ist ein altes Volk, das älteste der Welt. Seit vielen
Jahrtausenden lebt es am Großen Fluß und in den Bergen
der Anden. Weiter hinaus ist es nicht gezogen, nicht im
Krieg und nicht im Frieden, und nie ist es in das Land der
Weißen Barbaren gekommen. Doch die Weißen Barbaren
erobern unser Land und nehmen es in ihren Besitz. Sie ver-

folgen uns, verüben böse Taten und bringen uns viel
schlechtes bei. Bevor sie das Meer überquerten, herrschte
Friede und Eintracht im Reiche der Auserwählten Stämme.
Jetzt aber gibt es einen ewigen Krieg. Bis zum Quellgebiet
des Großen Flusses sind die Weißen Siedler vorgestoßen
und stehlen unser Land. Es ist das beste und letzte Land,
das wir haben. In diesem i,and sind wir geboren. Wir sind
darin aufgewachsen. Meine Vorväter haben in ihm gelebt
und sind in ihm gestorben. Und auch wir wollen in ihm
bleiben und in ihm sterben. Das Land gehört uns. Wenn
die Weißen Barbaren es wegzunehmen versuchen, werden
wir kämpfen, wie unsere Vorväter gekämpft haben und wie
es in der Chronik niedergeschrieben steht: ,

Die Weißen Barbaren traten zusammen. Ihre Waffen
nahmen sie und ihre Tiere, auf denen man gehen
kann. Zahlreich waren ihre Krieger, als sie den Gro-
ßen Fluß hinaufzogen. Aber die Auserwählten Die-
ner wußten um ihr Kommen. sie hatten nicht ge-
schlafen. sie hatten die Feinde beobachtet, als sie sich
rüsteten. Dann begaben sich die Weißen Barbaren
auf den Weg. Des Nachts planten sie anzugreifen,
wenn die Auserwählten Diener der Götter geden-
ken. Aber sie kamen nicht an ihr Ziel. Unterwegs
überwältigte sie der Schlaf. Und da kamen die Krie-

I42

ger der Auserwählten Stämme. sie schnitten ihnen
Augenbrauen und Lippenbart ab. Den silber-
schmuck lösten sie von ihren Waffen und warfen ihn
in den Großen Fluß. Das taten sie zur strafe und zur
Erniedrigung. so zeigten sie ihre Macht.

Anfang des i j. Jahrtausends, im i1. Jahrhundert in der
Zeitrechnung der Weißen Barbaren, setzten die Weißen
Eroberer ihren Vormarsch unaufhaltsam fort. Nach den
Soldaten kamen die Goldsucher und durchwühlten die
Flüsse nach den glänzenden Steinen. Die Jäger und Fallen-
steller sammelten die Felle des Jaguars und des Tapirs. Die
Priester der Weißen Barbaren errichteten Tempel im Zei-
chen des Kreuzes. ISO Jahre nach der Ankunft der ersten
Schiffe an der Ostküste umfaßte das Reich der Ugha Mon-
gulala nur noch die Länder am Oberlaui des Großen Flus-
ses, die Gebiete am Koten Fluß, den nördlichen Teil von
Bolivien und die Osthänge der Anden. Die Verbindung
zum Volk der Akahim war abgerissen. Die Wehrgrenze im
Westen lag in Trümmern. Von den einstmals mächtigen
Verbündeten Stämmen hatten nur der stamm der Tapir-
Töter und der Stamm der Schwarzen Herzen, der Bösen
Geister und der Stamm der Unrat-Verzehrer überlebt. Der
Stamm der Dämonen-Schrecken war in die Tiefen der Lia-
nenwildnis geflüchtet. Die Überlebenden des Stammes der
Umherziehenden lebten in Gemeinschaft mit den Akahim.
Unaufhaltsam rückten die Weißen Barbaren vor, alles ver-
nichtend, was sich ihnen in den Wer stellte oder auch was
ihnen nicht gefiel. Wic die Ameise das Fleisch Lies waid-
wunLlen Jaguars bis auf die Knochen abnagt, so zerstörten
sie das Reich der Auserwählten stamme.
Die Ugha Mongulala standen dem Ansturm ihrer
Feinde ohnmächtig gegenüber. Ifi hilfloser Erbitterung er-
lebten sie den Niedergang ihres einst mächtigen Imperi-

I43

ums. Zwar webten die Frauen auch jetzt noch die Kleider
für ihre Männer. Die Jäger folgten der spur Lies w>ilden
Ebers und legten Vorratslager für Llie Regenzeit an. Die
Krieger standen wachsam auf den gewaltigen Mauern Ller
Llurch hohe Berge und tiefe Täler geschüt?ten HauptstaLlt
Akakor. Aber in allein sein und Weilen Lies Auserwählten
Volkes lag eine tiefe Trauer, Bleich, weiß und müde waren
ihre Gesichter, wie die Blume, die in den Tiefen riet Lia-
nenwilclnis blüht. Wo waren die Götter geblieben, die ver-
sprochen hatten zurückzukehren, u,enn sich ihre Brüder,
die vom gleichen Blut sind unii iien gleichen Vater haben,
in Gefahr befanden? Was war aus der Gerechtigkeit der
Ew,igen Gesetze geworden, denen nach ihrem Vermächtnis
auch die Weißen Barbaren unterworfen sind? Das Volk
war ratlos. Selbst die Priester wußten keine Antwort.

Das war der Anfang vom Niedergang. Das war das
ruhmlose Ende des Reiches. so begann der sieg der
Weißen Barbaren, sie waren wie böse Geister, aber
auch mächtig. Wirklich stark waren sie. Aber es war
nicht gut, was sie taten und welche Verbrechen sie
begingen im Angesicht des Lichts. Und die Auser-
wählten Diener taten sich zusammen. Ihre Waffen
nahmen sie auf. Die Weißen Barbaren wollten sie
treifen. Kämpfen wollten sie. An den vier Ecken des
Reiches wollten sie ihnen ein Ende bereiten. Ihrer
mächtigen Waffen nicht fürchtend, wollten sie Rache
nehmen für ihre Verbrechen. Denn weder Macht
noch Reichtum hatte die Auserwählten Diener je-
mals so verblendet wie die Weißen Barbaren.

44

DER KRIEG AM GROSSEN FLUSS

Die u,ilden stamme ani Unterlaui des Großen Flusses
sind träge und friedfertig wie seine Wasser, bevor sie das
Meer erreichen. Als Lhasa das Imperium bis zu seiner
Mündung ausdehnte, kamen sie ihm mit Geschenken ent-
gegen. Sie begrüßten seine Krieger mit Gaben der Freund-
schaft. Willig schlossen sie sich dem mächtigsten Volk der
Erde an. Nichts wollten sie besitzen als ihr Land, um in
Ruhe und Frieden zu leben. Erst nach der Ankunft der
weißen Barbaren begannen die wilden Stämme, ihr Leben
zu ändern. Hatten sie die Ugha Mongulala zuvor unter-
stützt, so dienten sie jetzt den Weißen Priestern, die ihnen
Reichtum und Macht versprachen. Aber die Weißen Bar-
baren wissen nicht um den Wert von versprechen. Kalt
sind ihre Herzen, und höchst sonderbar und verschlungen
ist ihre Art zu denken, sie bekämpfen einander nicht um
der Mannesehre halber oder um ihre wirkliche Kraft zu
messen. Allein um der Dinge willen führen sie Krieg. Das
mußten auch die wilden Stämme am Unterlaui des Großen
Flusses erfahren. Die Greueltaten der Weißen Barbaren
waren so gewaltig, daß selbst diese friedfertigen Völker die
Waffen ergriffen. Sie taten sich zusammen und erklärten
ihren Unterdrückern den Krieg.
Einzelheiten über diesen Aufstand, der sich bald zu ei-
nem Bruderkrieg unter den Weißen Barbaren ausweitete,
erfuhr der Hohe Rat von Akakor durch seine zahlreichen
Späher. Sie berichteten mit Grauen von den Kämpfen,
Ohne Mitleid jagten die Weißen Barbaren die aufstänLli-
schen Krieger. Im Schutze der Nacht überfielen sie ihre
Städte und Dörfer. Das einlache Volk töteten sie mit ihren
feuerspeienden Wallen. Die Häuptlinge banden sie mit
dem Kopf nach unten an Bäume und schnitten ihnen Lias
Herz aus dem Leib. Bald war der Große WalLl v(in ii'eli-

I45
klagen der sterbenden Menschen erfüllt. Wie Schatten zo-
gen die Überlebenden durch das Land und baten die Götter
um Gerechtigkeit, sowie es in der Chronik niedergeschrie-
ben steht :

Was sind das iür Menschen, die selbst ihrer eigenen
Götter nicht achten, die töten aus Freude an frem-
dem Blut. Elendiglich sind sie. Knochenbrecher sind
sie. Selbst ihre eigenen Brüder schlagen sie blutig,
zehren sie aus bis aui die Knochen, zerstreuen ihre
Gebeine aui den Feldern. Das sind sie : Knochenbre-
cher, Schädelzertrümmerer, elendige Menschen.

Der gnadenlose Bruderkrieg der Weißen Barbaren dau-
erte drei Jahre. Dreimal wanderte die Sonne von Osten
nach Westen, bis der Krieg zu Ende war. Dann schien das
Land am Großen Fluß wie leergeiegt. Es glich der endlosen
Wüste der Meere, aui der sich sogar die großen Schiiie der
Weißen Barbaren verlieren. Die wilden Stämme waren
ausgerottet. Kaum ein Drittel der Bevölkerung hatte über-
lebt. Aber auch die Krait der siegreichen Weißen Barbaren
war erschöpit. In den nächsten Jahrzehnten erhielten die
Ugha Mongulala eine lebenswichtige Frist. Sie konnten
sich in Ruhe zurückziehen und die Verteidigung der noch
verbliebenen Gebiete neu ordnen. Mein Volk schöpfte
wieder Mut. Die Menschen opierten Weihratich und Bie-
nenhonig und geLiachten in Ehrfurcht der Toten.

Die Stämme der Auserwählten Diener kamen zu-
sammen. Vor dem goldenen Spiegel versammelten
sie sich, um für das Licht zu danken uni] die Toten
zu beweinen. Sie zündeten Harz an unLl Zauberkraut
und Weihrauch. Und zum ersten Mal in der Ge-
schichte sangen die Auserwählten Diener auch das

Ij6

Lied von der Schwarzen Sonne. Voller Schmerz und
Leid :

Wehe uns,
Die Sonne scheint schwarz.
Ihr Licht bedeckt die Erde mit Kummer,
Ihre Strahlen verkünden den Tod.

Welle uns,
Die Krieger kehrten nicht zurück,
Fielen am Großen Fluß in der Schlacht.
Die Bogenschützen und die Späher,
Die Schleuderer und die Speerwerfer.
Wehe uns,
Die Sonne scheint schwarz.
Finsternis liegt über der Erde.

DER VORMARSCH DER GUMMISUCHER

Der Friede an der Ostgrenze des Reiches dauerte nur
kurze Zeit. Kaum fünfzig Jahre nach dem schrecklichen
Krieg am Unterlaui des Großen Flusses hatten sich die
Weißen Barbaren von ihren Verlusten erholt. Sie setzten zu
einem neuen Ansturm aui die Großen Wälder an. Von
Manaus, wie sie ihre größte Stadt nennen, drangen sie in
einer breiten Front zum Oberlaui ries Großen Stroms und
ries Roten und Schwarzen Flusses vor. Und wieder trieb sie
ihre unersättliche Habgier. Die Weißen Barbaren hatten
das Geheimnis des Gummis entdeckt.
Mein Volk kennt das Geheimnis des Gummibaums seit
Tausenden von Jahren. Aus seinem Saft stellten unsere
Priester Heilmittel und Gift her. Sie,<erwenden ihn für die
Farben der Kriegsbemalung und zum Bau der Häuser.
Aber mein Volk achtet die Gesetze der Natur. Nur in klei-
nen Mengen sammelt es den Gummi, wie die Weißen Bar-

I47

baren den Baumsaft nennen. Mein Volk vermeidet alles,
was das Leben des Waldes gefährden könnte.
Die Weißen Barbaren raubten den Wald rücksichtslos
aus. Sie schickten Hunderttausende von Männern in die
Lianenwildnis, getrieben von dem Versprechen schnellen
Reichtums und den Waffen ihrer Aufseher. In kurzer Zeit
verwandelte sich das einst fruchtbare Land in eine trostlose
Wüste. Dieser erneute Vorstoß der Weißen Barbaren
wurde für Akakor noch gefährlicher als ihre Kriegszüge
hundert Jahre zuvor. Damals hatten sie sich mit der schnel-
len Beute begnügt. jetzt blieben sie in den Wäldern. Sie
siedelten sich an und bebauten das Land. Die wilden
Stämme mußten fliehen. Die Zurückgebliebenen wurden
von den Gummisuchern ermordet oder wie Tiere in großen
Gehegen gefangengehalten. Eine große Verzweiflung
breitete sich aus. Weil die Weißen Barbaren das Licht der
Götter nicht kennen, verdunkelte sich das Antlitz der
Erde.
Die Ugha Mongulala wurden von dem zweiten Vor-
marsch der Weißen Barbaren vor allem auf der Hochebene
von Matto Grosso und an der Grenze Boliviens überrascht.
Das waren die ältesten stammesgebiete meines Volkes.
Hier hatten seine Vorväter seit der Ankunft der Götter vor
15 ooo Jahren gelebt. Unter dem Ansturm der Gummisu-
cher und der Siedler mußten die Krieger zurückweichen.
Selbst das ganze Hauptheer der Ugha Mongulala wäre
nicht imstande gewesen, die Weißen Barbaren aufzuhalten.
Sie kamen in einer ungeheuren Zahl. Ihre Anführer besa-
ßen starke, weit überlegene Waffen. So beschloß der Hohe
Rat, am Großen Wasserfall in den Vorbergen der Anden
eine neue Reichsgrenze zu errichten. Hier stellten sich die
Ugha Mongulala zum Kampf. Von hier aus verteidigten sie
Akakor, begünstigt durch das schwierige Gelände und ent-
schlossen, für das Vermächtnis der Früheren Herren zu
sterben.

AR


Im Verlauf der Kämpfe entwickelten die FelJherren
eine neue Kriegstaktik. In den frühen Morgenstundeii,
während die Weißen Barbaren noch schliefen, schliLhen
sich unsere Krieger in ihre Siedlungen. Sie schlugen die
Wachen nieder und trugen die auf Pfählen gebauten Hüt-
ten zum Fluß. Die schlafenden Weißen Barbaren ertran-
ken. Oder sie wurden von den Fischen aufgefressen. Wenii
ihre Posten aus der Betäubung erwachten, fanden sie nur
noch einen weiten, leeren Platz vor. Schilderten sie das ge-
heimnisvolle Geschehen in einem Nachbardorf, so
schenkte man ihnen keinen Glauben. Die Gummisucher
hielten sie für verrückt. Je öfter sich solche vorfälle wie-
derholten, um so größer wurde ihr Mißtrauen und ihre
Verwirrung. Sie begannen, sich gegenseitig zu bekämpfen.
Aus Angst vor neuen Überfällen wichen sie aus den Wäl-
dern zurück. Ein weiteres Ereignis beschleunigte noch den
Rückzug der Weißen Barbaren. Auch die unermeßlichen
Wälder waren nicht groß genug für ihre Habgier. Da sie die
Gesetze der Natur mißachteten, ging die Zahl der Gummi-
bäume zurück. Die Suche nach dem wertvollen Saft wurde
immer schwieriger. Die Mehrzahl der Gummisucher
kehrte an die Küste im Osten zurück. Nur wenige Siedlun-
gen am Oberlauf des Roten Flusses blieben bewohnt.

Die Weißen Barbaren nahmen das Land. Sie bevöl-
kerten die Ufer am Großen Fluß. Söhne und Töchter
hatten sie. Die Felder bebauten sie. Dörfer aus Kalk
und Mörtel legten sie an. Große Taten vollbrachten
sie. Aber sie hatten keine Seele und keinen Verstarr(1.
Das Vermächtnis der Götter war ihnen fremd. Die
Weißen Barbaren glichen den Menschen. Sie spra-
chen wie Menschen. Aber sie wvaren schlimfiier als Llie
wilden Tiere.

1 49

DER ÜBERFALL AUF DIE HAUPTSTADT
DER WEISSEN BARBAREN

Seit ich die Weißen Barbaren in ihrem eigenen Land be-
sucht und kennengelernt habe, weiß ich, daß auch sie Wis-
sen und Weisheit besitzen. Vieles, was sie geschaffen ha-
ben, wäre auch der Ugha Mongulala würdig. Aber mein
Volk mißt die Menschen nach ihrem Herzen. Und in den
Herzen der Weißen Barbaren ist Verrat und Finsternis. Sie
sind falsch gegen die Feinde und gegen die eigenen Brüder,
Trug und List sind ihre wichtigsten Wallen. Doch wir ha-
ben aus ihren Taten gelernt. Mit unserem Mutund unserer
Weisheit können wir sie besiegen. Das hat Sinkaia, ein
würdiger Nachfolger aus dem Geschlecht des Erhabenen
Göttersohns Lhasa, bewiesen. 384 Menschenalter waren
seit seinem geheimnisvollen Abgang vergangen. Die
Chronik schrieb das Jahr 12 401, I920 in der Zeitrechnung
der Weißen Barbaren, als er zum Fürst der Ugha Mongu-
lala ausgerufen wurde. Sinkaia erwies sich schon bald als
ganzer Mann. Er lenkte den Rückzug der Auserwählten
Diener zur neuen Wehrgrenze am Großen Wasserfall. Er
war es auch, der die Verteidigung des Reiches neu ordnete
und einen Kriegszug bis tief in das Land der Weißen Bar-
baren befahl. Er ist bis heute ein Symbol der Tapferkeit der
Ugha Mongulala.

Das ist die Geschichte vom Überfall auf die Haupt-
stadt der Weißen Barbaren. Hier werden wir seinen
Verlaui beschreiben. Überdenkend alle Verbrechen,
alles Leid und allen Schmerz, die sie (ten Auserwähl-
ten Stämmen ziigeiüigt hatten, beschloß Sinkdia den
Krieg. Und so sprach er zu den mutigsten Kriegern:
Das ist der Auftrag, den wir euch geben. vorwärts
sollt ihr gehen, eindringen in das Reich unserer

150

Feinde. Eure toten Brüder sollt ihr rächen. Rache
nehmen iiir das Blut, das seit der AnkunitLler weißen
Barbaren geflossen ist. Nehmt die besten wallen, die
schnellsten Bogen, die schärfsten Pfeile und öffnet
ihnen die Brust. Zündet ihre Häuser an, tötet ihre
Männer. Frauen und Kinder aber laßt ani Leben.
Denn auch in diesem Kampf wollen wir (las ifer-
mächtnis der Altväter ehren. Zuvor aber geht in Llen
Tempel der Sonne. Verabschiedet euch von den Göt-
tern, denn Rückkehr wird euch kaum beschieden
sein. Aber beeilt euch. Der Bote mit dem Goldenen
Pfeil ist schon auf dem Weg. Am Tag gleiLh wie bei
Nacht eilt er euch voraus. Krieg bringt erden Weißen
Barbaren,

Ich weiß nicht, wie die Chronik der Weißen Barbaren
den Kriegszug Sinkaias beschreibt. Ich weiß auch nicht,
welchen Namen sie den Kriegern gaben, die am hellichten
Tag in ihre Hauptstadt eindrangen. Mir ist nur bekannt,
was in der Chronik von Akakor niedergeschrieben ist.
Nach der Chronik meines Volkes hatte der Hohe Rat der
Weißen Barbaren fünfzehn der angesehensten Männer der
unterworfenen Inkas gefangengenommen. Sinkaia fühlte
sich verantwortlich für ihr Schicksal. Er schickte einen Bo-
ten in die Stadt, die man Lima nennt, und befahl ihre sofor-
tige Freilassung. Als die Anführer der Weißen Barbaren
seine Forderung ablehnten, sandte er den Läufer mit dein
Goldenen Pfeil, zum Zeichen des Krieges. Dann machten
sich achtzig ausgesuchte Krieger auf den Weg in das LanLl
ihrer Feinde.
Nach unserer Chronik zagen die Krieger aluroh einen
unterirdischen Gang aus der Zeit des Erhabenen Götter-
sohns Lhasa. Er beginnt im Tempel der Sonne in Akakor
und endet im Herzen Ller Hauptstadt der Weißen Barba-

151
ren. Seine Wände sind hell, in bestimmten Abständen ein-
gelassene schwarze Steine, die wir Stundensteine nennen,
geben die Entfernung an. Die Eingänge und Ausgänge sinÄ
durch Zeichen unserer Götter und durch Fallen und vergif-
tete Pfeile geschützt. Der Verlaui der Tunnel ist nicht ein-
mal den Inkas bekannt. Nach der Ankunft der Weißen
Barbaren in Peru hatten sie einen eigenen unterirdischen
Gang angelegt. Er führte von Cusco über Catamarca bis in
den Innenhof einer Kathedrale von Lima. Eine Steinplatte
schließt den Gang von der Außenwelt ab. Sie ist so ge-
schickt in das Fundament eingelassen, daß sie sich nicht von
den anderen Platten unterscheidet. Nur wer ihr Geheimnis
kennt, vermag sie zu öffnen.
Die achtzig ausgesuchten Krieger zogen durch den
Gang Lhasas. Drei Monde lang bewegten sie sich wie
Schatten durch das Land der Feinde. Dann erreichten sie
die Hauptstadt der Weißen Barbaren. Im Morgengrauen
brachen sie aus dem unterirdischen Gang hervor und ver-
suchten, die Ältesten der Inkas zu befreien. in dem nun
folgenden Kampf wurden 1.20 Weiße Barbaren getötet.
Aber die Übermacht der Feinde war zu groß. Keiner der
Krieger Sinkaias kehrte nach Akakor zurück. Als treue
Diener der Götter gaben sie ihr Leben für das Auserwählte
Volk.

152

Zum Inhaltsverzeichnis / Zum nächsten Kapitel