IV. Kapitel
DIE RÜCKKEHR DER GÖTTER
1970 bis 1972:
Die Kennzeichen der Gegenwart sind Skepsis und Unsi-
cherheit. Auf allen Wissensgebieten zeichnet sich ein Um-
wandlungsprozeß ab, der die bisher gültigen wirtschaftliche n
und politischen Ordnungen zerrüttet. Die Vorräte an Atom-
und Wasserstoffbomben reichen aus, um das Leben auf der
Erde völlig zu vernichten. Mit dem zunehmenden Mangel an
Rohstoffen beginnt der Ansturm auf die letzten noch uner-
forschten Gebiete der Erde. In Amazonien schaffen Fernstra-
ßen und Flugplät2e die notwendigen Voraussetzungen zur Er-
schließung der riesigen Urwälder. Dadurch verringert sich der
Lebensraum der letzten Reste der Eingeborenenbevölkerung
radikal. Nach Schätzungen der FU NAI, der staatlichen brasilia-
nischen Indianerschutzbehörde, werden kaum 10000 Ur-
waldindianer das Jahr 1985 erleben.
DER TOD DES HOHEPRIESTERS
Wenn ein Mann nichts mehr zu verlieren hat und alle
Wege in die Zukunft verschlossen sind, dann sucht er in der
Vergangenheit. Das habe ich getan, indem ich das Geheim-
nis des ältesten Volkes der Welt erzählt habe. Aber die
Weißen Barbaren haben meinen Worten keinen Glauben
geschenkt. Wie die Ameise, die alles zerstört, nehmen sie
uns das wenige Land, das uns noch geblieben ist, das letzte.
Und so bereiten sich die Ugha Mongulala auf den Unter-
gang vor. Denn das Ende ist nahe. Der Kreis schließt sich.
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Die dritte Große Katastrophe steht bevor. Dann kommen
die Götter zurück, so wie es in der Chronik niederge-
schrieben steht:
Wehe uns. Das Ende ist nahe. Zu einem traurigen
Ziel sind wir gelangt. Was haben die Auserwählten
Diener getan, um so tief zu fallen? Wenn doch die
Früheren Herren zurückkehrten. So sprachen die
Männer im Hohen Rat. In Trübsal und Not, unter
Seufzern und Tränen sprachen sie. Denn die Zeit
neigte sich ihrem Ende zu. Schwarze Wolken ver-
deckten die Sonne. Verhüllt war der Morgenstern.
Und der Hohepriester verneigte sich vor der Golde-
nen Scheibe. Im GroßenTempel der Sonne sprach er:
Wer sind diese ? Wer hat sie geboren? Woher sind sie
gekommen? Wahrlich, unsere Herzen sind schwer,
denn das, was sie tun, ist vom Übel. Grausam sind
ihre Gedanken. Unheilvoll ist ihr Wesen. Aber wenn
sie uns zum Kampf zwingen, dann wollen wir auch
kämpfen. Mit dem Speer in der Hand, auf Pfeil und
Bogen vertrauend, wollen wir sterben als Diener der
Früheren Herren, die bald zurückkehrü41, uIn uns zu
rächen.
Im Jahre 12452 1971 in der Zeitrechnung der Weißen
Barbaren, wenige Monde nach meiner Rückkehr nach
Akakor, wurden die Ugha Mongulala von einem neuen
Unheil heimgesucht. Magus, der Hohepriester, war ge-
storben. Nach einer Versammlung des Hohen Rates war er
zusammengebrochen, überwältigt von Gram und wissen
um das bevorstehende Unheil. Sein Tod wirkte auf die
Auserwählten Stämme wie ein drohendes Zeichen, wie teiii
Hinweis auf den kommenden Untergang. Be(lrängt ,>on
den vordringenden Weißen Barbaren, verloren sieden Mut
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und den Glauben an das Vermächtnis der Früheren Her-
ren.
Die Trauerleiern für Magus, den Hohepriester der
Auserwählten Stämme, dauerten drei Tage. Die Priester
versammelten sich im Tempel der Sonne und bereiteten
seinen Leichnam für die Wanderung in das Zweite Leben
vor. Sie hüllten ihn in feinste Tücher und trugen ihn zu dem
Weihestein vor dem Goldenen Spiegel, dem Auge der
Götter. Zu seinen Füßen legten sie einen Laib Brot und
eine Schale Wasser, die Zeichen von Leben und Tod. Die
Ältesten des Volkes opferten Weihrauch, Bienenhonig und
erlesene Früchte. Die Feldherren gedachten der Weisheit
des Toten und seiner Taten. Dann brachten die Priester den
Leichnam von Magus in die vorbereitete Grabkammer an
der Stirnseite im Tempel der Sonne. Drei Tage lang zog das
Volk an der Grabkammer vorbei und verabschiedete sich
voller Kummer und Leid von Magus. Am folgenden Mor-
gen, noch bevor die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne
die Erde berührten, schlossen die Priester das Grab. Ma-
gus, der weise Hohepriester, der alle Kriege vorauswußte.
und dem alles offenbart war, war zu den Göttern zurück-
gekehrt.
Jetzt nun seivon Magus die Rede. Ewig trägt ihn das
Auserwählte Volk im Herzen. Denn er hatte nurdas
Wahre getan und das Gerechte. Seinem Herzen war
unbekannt, was falsch und verworren ist. Den Göt-
tern hatte er sein Leben geweiht. Ein Meister des
Wissens war Magus, jedes Glied seines Körpers war
mit Weisheit durchdrungen und mit Wahrheit gesät-
tigt. Das Gleichgewicht aller Dinge kannte er. Die
Herzen der Menschen durchschaute er und die Ge-
setze der Natur-Nicht dem Einfluß der Stunde folg-
ten seine Taten. Fremd waren ihm Ehrgeiz und
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Neid, Den Befehlen der Götter gehorchend, durch-
lief er den Kreis. Und ihnen überließ er sich in der
Stunde des Todes, iiie unwiderruflich kommt, wie
bei Tagesanbruch die Sonne, die das Leben der Men-
schen bestimmt.
DER RÜCK2UG IN DIE UNTERIRDISCHEN l/OHNSTATTEN
Magus, der Hohepriester der Ugha Mongulala, war ge-
storben. Nach dem Vermächtnis der Götter ging sein Amt
auf seinen erstgeborenen sohn über. Wie der Fürst mußte
auch er sich einer strengen Prüfung durch den Hohen Rat
unter2iehen und mit den Göttern Zwiesprache halten.
Uno, der erstgeborene Sohn des Magus, kehrte nach drei-
zehn Tagen in den Tempel der Sonne zurück. Die Ältesten
bestimmten ihn zum neuen Hohenpriester. Die Gesetze
Lhasas waren erfüllt.
jetzt rief ich den Hohen Rat zusammen, um über die
Zukunft der Auserwählten Stämme zu beschließen. Die
Beratung dauerte nur kurze Zeit. Einmütig beschlossen die
Ältesten des Volkes, in die unterirdischen Wohnstätten der
Götter zu ziehen. Und so gingen die Ugha Mongulala
dorthin zurück, wo ihre Vorväter schon zwei Große Kata-
strophen überlebt hatten. Wehklagend gaben sie ihre Häu-
ser auf und brachen alle Beziehungen zur Außenwelt ab.
Die Deutschen Soldaten zerstörten mit ihrem Schwarzpul -
ver die Tempel, Paläste und Gebäude von Akakor. Die
Krieger brannten die letzten Dörfer und Siedlungen nie-
der. Kein Zeichen, keine spur ließen sie zurück, die auf
Akakor weisen konnte, selbst die wenigen noch verbliebe -
nen Stützpunkte im Quellgebiet des Großen Flusses gaben
sie auf. Den Verbündeten Stämmen wurde es freigestellt,
sich den Ugha Monguläla anzuschließen oder die Bezie-
hungen abzubrechen. Von den sieben stämmen entschlos -
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sen sich sechs für das Verbleiben in ihren alten Stammesge-
bieten. Nur der Stamm öer Schlangenesser begleitete mein
volk in die unterirdischen ivohnstätten. Er wurde in allen
Ehren aufgenomnien, Lind sein Häuptling erhielt einen Sit/
im Hohen Rat als Daiik für die Treue zu duff Ugha von-
gulala und zum Vermächtnis der Götter.
Der Rück?ug ist,ollzogen. Uiii die Götter 7u cr-
warten, kehrten tl ie Auserwählten Diener in iiie un-
terirdischen Wohnstätten zurück. Danach ruhten
ihre Herzen aus. Und ihren Söhnen erzählten sie von
den vergangenen Tagen Lind dem Glanz der Götter,
von den mächtigen Zauberern, die Berge unti Täler
geschaffen haben uni] die Wasser Lind Lias Land, von
den Herren Lies Himmels sprachen sie, die vom glei-
chen Blut sind uni] den gleichen Vater haben.
Seit dem Rückzug der Auserwählten Diener in die un-
terirdischen Wohnstätten im jähre I1452, 197I in der
Zeitrechnung der Weißen Barbaren, leben nur noch iooo
Krieger an der Erdoberfläche. Sie bestellen ii ie Felder und
bringen die Ernte ein Lind berichten dem Hohen Rat von
dem Herannahen der weißelf Barbaren. Kampf ist ihnen
jeclocli verboten. Beim Auftauchen der Feinde müssen sie
sich zurückziehen, um das Geheimnis der unterirdischen
Wohnstätten zu wahren.
in Unterakakor, Bodo und Kisch leben noch joooo
Menschen. Die ührigen Städte stehen leer oller sind wie Mu
mit Kriegs gerät und Vorräten angefüllt. Noch heute erhellt
das künstliche Licht die dreizehn Städte der Götter. Die
Atemluft kommt aus den Wänden. Die großen Steintore
lassen sich noch so leicht bewegen wie vor zehntausend
Jahren. in der ersten Zeit nach dem Rückzug in die unterir-
dischen Wohnstätten versuchten die Deutschen Soldaten,
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ihr Geheimnis zu lösen. Sie,>ermaßen die Tunnel und [er-
tigten genaue Lagepläne an. Auf W'unsch ihrer Antiihrer
öffnete ich ihnen sogar die geheimen Bezirke unter tieni
Tempel der Sonne. Hier entdeckten die Deutschen Solda-
ten seltsame Geräte und Werkzeuge der Götter, die ihrem
eigenen Kriegsgerät glichen. Sie hatten iien Eindruck, als
hätten die Altväter die unterirdischen Wohnstätten flucht-
artig verlassen. Aber auch unsere verbündeten konnten
Lias Geheimnis von Unterakakor nicht erklären. Denn die
Götter haben die Städte nach ihren eigenen, uns unbe-
kannten Plänen erbaut, Erst wenn sie zurückkehren, wer-
den die Menschen ihre Werke und Handlungen verstehen.
Heute haben die Deutschen Soldaten resigniert. Sie sind
alt geworden oder gestorben. Ihre Kinder denken und füh-
len wie die Ugha Mongulala und leben nach dem Ver-
mächtnis der Götter. Die Priester halten Weihedienste im
Tempel der Sonne ab. Das einfache Volk stellt Gegen-
stände für den täglichen Gebrauch her. Die Beamten des
Fürsten halten die Verbindung zu Bodo und Kisch. Es ist
eine Zeit des Lernens und der Beschauung. Alle Menschen
leben in der Erinnerung, und ihre Herzen sind schwer,
wenn sie an die glänzenden Tage Lhasas denken, jetzt ha-
ben sie nichts mehr als die Hoffnung, in den unterirdischen
Wohnstätten den Ansturm der Weißen Barbaren zu über-
leben. Und sie haben die Gewißheit, daß die Götter bald
zurückkehren werden, wie sie es bei ihrem Aufbruch ver-
sprochen haben.
DIE RUCKKEHR DER GÖTTER
Wären die Ugha Mongulala nur ein Volk wie die aniie-
ren Völker, hätte sich ihr Schicksal längst erfüllt. Aber sic
sind die Auserwählten Diener der Götter und vertrauen
ihrem uralten Vermächtnis. Auch in defi Augenblicken
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höchster Not leben sie nach den Gesetzen der Altväter. Das
gibt ihnen das Recht, über die Weißen Barbaren zu urteilen
und die Menschen vor ihnen zu warnen, so wie es in der
Chronik niedergeschrieben steht:
Menschen der Wälder, der Ebenen und der Berge.
Lallt euch folgendes sagen: Die Weißen Barbaren
sind rasend geworden, Einer tötet den anderen. Alles
ist Blut, schrecken und verderben. Das Licht der
Erde ist am Erlöschen. Finsternis liegt auf dem Weg.
Man hört nur das Flügelschlagen der Eulen und die
schreie des Großen Waldvogels. Wir müssen stark
bleiben gegen sie. Wenn sich einer von ihnen nähert,
streckt ihm eure Hände vor. Weist ihn ab und ruft
ihm zu: Schweige, du mit deiner lauten Stimme.
Deine Worte sind nur Donnergrollen. Nicht mehr
sind sie. Bleibe uns fern mit deinen Freuden und Lü-
sten, deinem wilden Raffen nach Reichtum, deiner
Gier, mehr zu sein als der andere, deinem vielen
sinnlosen Tun, dem wirren Machen deiner Hände,
deinem neugierigen Denken und Wissen, das doch
nichts weiß. Wir brauchen das alles nicht. Wir be-
gnügen uns mit dem Vermächtnis der Götter, dessen
Licht uns nicht blendet und uns nicht in die Irre
führt, sondern alle Wege klarmacht, damit wir seine
große Weisheit in uns aufnehmen und als Menschen
leben.
Ich erinnere mich. Es war im Jahre 12 449 bei meinem
ersten Besuch im Land der Weißen Barbaren. Immer wie-
der stellten mir die Weißen Soldaten dieselben Fragen. Sie
sprachen über das Leben der Völker am Großen Fluß, über
ihre angebliche Faulheit und angeblichen Laster. Die Wil-
den, so sagten sie zu mir, sind von Geburt an dumm, hin-
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terlistig und falsch. Sie besitzen wenig Geist und überhaupt
keine Ausdauer. Aus Lust am Kampf töten sie sich gegen-
seitig. So sprachen die Weißen Barbaren über Völker, die
schon geschriebene Gesetze besaßen, als sie selbst noch auf
allen vieren durch die Wälder liefen, so wie es unsere
Chronik berichtet. Aber ich habe ihre schlechten Reden
hingenommen, ich habe ihre Worte bewahrt wie der Spä-
her, der sich die Spuren der Feinde einprägt. Doch in den
acht Monden, die ich im Land der Weißen Barbaren ver-
brachte, habe ich nichts gefunden, was meinem Volk hätte
nützen können. Es ist wahr, auch sie haben Felder bestellt
und Städte gebaut. Sie haben Straßen angelegt und gewal-
tige Geräte erfunden, die kein Ugha Mongulala verstehen
kann, Aber das Vermächtnis der Götter ist ihnen verbor-
gen geblieben. In ihrem Irrglauben zerstören die Weißen
Barbaren ihre eigene Welt. Sie sind so verblendet, daß sie
nicht einmal ihre Herkunft erkennen, obwohl nur der, der
um seine Vergangenheit weiß, auch den Weg in die Zu-
kunft findet.
Die Ugha Mongulala wissen um ihre Vergangenheit,
niedergeschrieben in der Chronik von Akakor. Deshalb
wissen sie auch um ihre Zukunft. Nach den Prophezeiun-
gen der Priester wird im Jahre 12462, 1981 in der 2eitrech-
nung der Weißen Barbaren, eine dritte Große Katastrophe
die Erde zerstören. Die Katastrophe wird dort beginnen,
wo einst Samon sein großes Reich errichtet hatte. In diesem
Land wird ein Krieg ausbrechen, der langsam auf die gaoze
Erde übergreift. Mit Waffen, die heller sind als tausend
Sonnen, werden sich die Weißen Barbaren vernichten. Nur
wenige werden die Feuerstürme überleben, unter ihnen
auch die Menschen der Ugha Mongulala, die in den unter-
irdischen Wohnstätten ausgeharrt haben. Das jedenfalls
sagen die Priester, und so haben sie es in der Chronik nie-
dergeschrieben:
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Den Menschen steht ein furchtbares Schicksal bevor.
Ein Sturm wird sich erheben, Lind die Berge und die
Täler merden erzittern. Vom Himmel wird es Blut
regnen, und das Fleisch der Menschen wird dahin-
schwinden. Es wird weich werden. Die Menschen
werden ohne Kraft sein und ohne Bewegung. Sie
werden die vernunit verlieren. Sie können nicht
mehr rückwärts blicken. Ihre Körper werden zerfal-
len. So ernten die Weißen Barbaren die Früchte ihres
Tuns. Der Wald wird erfüll t sein von ihren Schatten,
die sich im Schmerz krümmen und hilflos sind. Dann
werden die Götter zurückkehren, voller Gram über
die Menschen, die ihr Vermächtnis vergessen haben.
Und eine neue Welt wird entstehen, in der die Men-
schen, die Tiere und die Pflanzen in einem heiligen
Bund zusammen leben. Dann kehrt die Goldene Zeit
zurück.
Das ist die Chronik von Akakor.
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