Lied Vom Kindsein – Peter Handke
Transcribed by Greg O'Beirne
and Beatrice Birkner
Als das Kind Kind war,
ging es mit hängenden Armen,
wollte der Bach sei ein Fluß,
der Fluß sei ein Strom,
und diese Pfütze das Meer.
Als das Kind Kind war,
wußte es nicht, daß
es Kind war,
alles war ihm beseelt,
und alle Seelen waren eins.
Als das Kind Kind war,
hatte es von nichts eine Meinung,
hatte keine Gewohnheit,
saß oft im Schneidersitz,
lief aus dem Stand,
hatte einen Wirbel im Haar
und machte kein Gesicht beim fotografieren.
Als das Kind Kind war,
war es die Zeit der folgenden Fragen:
Warum bin ich ich und warum nicht
du?
Warum bin ich hier und warum nicht
dort?
Wann begann die Zeit und wo endet
der Raum?
Ist das Leben unter der Sonne nicht
bloß ein Traum?
Ist was ich sehe und höre und
rieche
nicht bloß der Schein einer
Welt vor der Welt?
Gibt es tatsächlich das Böse
und Leute,
die wirklich die Bösen sind?
Wie kann es sein, daß ich,
der ich bin,
bevor ich wurde, nicht war,
und daß einmal ich, der ich
bin,
nicht mehr der ich bin, sein werde?
Als das Kind Kind war,
würgte es am Spinat, an den
Erbsen, am Milchreis,
und am gedünsteten Blumenkohl.
und ißt jetzt das alles und
nicht nur zur Not.
Als das Kind Kind war,
erwachte es einmal in einem fremden
Bett
und jetzt immer wieder,
erschienen ihm viele Menschen schön
und jetzt nur noch im Glücksfall,
stellte es sich klar ein Paradies
vor
und kann es jetzt höchstens
ahnen,
konnte es sich Nichts nicht denken
und schaudert heute davor.
Als das Kind Kind war,
spielte es mit Begeisterung
und jetzt, so ganz bei der Sache
wie damals, nur noch,
wenn diese Sache seine Arbeit ist.
Als das Kind Kind war,
genügten ihm als Nahrung Apfel,
Brot,
und so ist es immer noch.
Als das Kind Kind war,
fielen ihm die Beeren wie nur Beeren
in die Hand
und jetzt immer noch,
machten ihm die frischen Walnüsse
eine rauhe Zunge
und jetzt immer noch,
hatte es auf jedem Berg
die Sehnsucht nach dem immer höheren
Berg,
und in jeden Stadt
die Sehnsucht nach der noch größeren
Stadt,
und das ist immer noch so,
griff im Wipfel eines Baums nach
dem Kirschen in einemHochgefühl
wie auch heute noch,
eine Scheu vor jedem Fremden
und hat sie immer noch,
wartete es auf den ersten Schnee,
und wartet so immer noch.
Als das Kind Kind war,
warf es einen Stock als Lanze gegen
den Baum,
und sie zittert da heute noch.
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