DER WANDRER - von Johann Wolfgang von Goethe


[WANDRER]
Gott segne dich, junge Frau,
Und den saeugenden Knaben
An deiner Brust!
Lass mich an der Felsenwand hier
In des Ulmbaums Schatten
Meine Buerde werfen,
Neben dir ausruhn.

[FRAU]
Welch Gewerbe treibt dich
Durch des Tages Hitze
Den sandigen Pfad her?
Bringst du Waren aus der Stadt
Im Land herum?
Laechelst, Fremdling,
Ueber meine Frage?

[WANDRER]
Ich bringe keine Waren
Aus der Stadt.
Schwuel ist, schwer der Abend.
Zeige mir den Brunnen,
Draus du trinkest,
Liebes junges Weib.

[FRAU]
Hier den Felsenpfad hinauf.
Geh voran! Durchs Gebuesche
Geht der Pfad nach der Huette,
Drin ich wohne,
Zu dem Brunnen,
Da ich trinke draus.

[WANDRER]
Spuren ordnender Menschenhand
Zwischen dem Gestraeuch --!
Diese Steine hast du nicht gefuegt,
Reich hinstreuende Natur!

[FRAU]
Weiter 'nauf.

[WANDRER]
Von dem Moos gedeckt ein Architrav -- ?
Ich erkenne dich, bildender Geist,
Hast dein Siegel in den Stein gepraegt.

[FRAU]
Weiter, Fremdling.

[WANDRER]
Eine Inschrift, ueber die ich trete,
Der Venus -- und ihr uebrigen
Seid verloschen,
Weggewandelt, ihr Gesellen,
Die ihr eures Meisters Andacht
Tausend Enkeln zeugen solltet.

[FRAU]
Staunest, Fremdling,
Diese Stein' an?
Droben sind der Steine viel
Um meine Huette.

[WANDRER]
Droben?

[FRAU]
Gleich zur Linken
Durchs Gebuesch hinan,
Hier!

[WANDRER]
Ihr Musen und Grazien!

[FRAU]
Das ist meine Huette.

[WANDRER]
Eines Tempels Truemmern! *

[FRAU]
Da zur Seit' hinab
Quillt der Brunnen,
Da ich trinke draus.

[WANDRER]
Gluehend webst du ueber deinem Grabe,
Genius! Ueber dir
Ist zusammengestuerzt
Dein Meisterstueck,
O du Unsterblicher!

[FRAU]
Wart'! Ich will ein
Schoepfgefaess dir holen.

[WANDRER]
Efeu hat deine schlanke
Goetterbildung umkleidet.
Wie du emporstrebst
Aus dem Schutte,
Saeulenpaar!
Und du, einsame Schwester dort!
Wie ihr, Majestaetisch traurend herabschaut
Auf die zertruemmerten
Zu euren Fuessen,
Eure Geschwister!
In des Brombeergestraeuches Schatten
Deckt sie Schutt und Erde,
Und hohes Gras wankt drueber hin.
Schaetzest du so, Natur,
Deines Meisterstuecks Meisterstueck?
Unempfindlich zertruemmerst
Du dein Heiligtum,
Sae'st Diesteln drein.

[FRAU]
Wie der Knabe schlaeft!
Willst du in der Huette ruhn,
Fremdling, willst du hier
Untern Pappelbaum dich setzen?
Hier ist's kuehl! Nimm den Knaben,
Dass ich Wasser schoepfen hinabgeh'.
Schlaf, Lieber, schlaf!

[WANDRER]
Suess ist deine Ruh!
Wie's in himmlischer Gesundheit schwimmend,
Ruhig atmet!
Du, geboren ueber Resten
Heiliger Vergangenheit,
Ruh' ihr Geist auf dir!
Welchen der umschwebt,
Wird in Goetterselbstgefuehl
Jedes Tags geniessen.
Voller Keim, blueh' auf,
Lieblich daemmernden Lenzes Schmuck,
Scheinend vor deinen Gesellen!
Und welkt die Bluetenhuelle weg,
Dann steig' aus deinem Busen
Die volle Frucht, und reif' der Sonn' entgegen.

[FRAU]
Gesegn' es Gott! -- Und schlaeft er noch?
Ich habe nichts zum frischen Trunk
Als ein Stueck Brot,
Das ich dir bieten kann.

[WANDRER]
Ich danke dir.
Wie herrlich alles blueht umher
Und gruent!

[FRAU]
Mein Mann wird bald
Nach Hause sein
Vom Feld. Bleib, Mann,
Und iss mit uns
Das Abendbrot.

[WANDRER]
Ihr wohnet hier?

[FRAU]
Hier zwischen das Gemaeuer her
Die Huette baute noch mein Vater
Aus Ziegeln und des Schuttes Steinen.
Hier wohnen wir.
Er gab mich einem Ackersmann
Und starb in unsern Armen. --
Hast du geschlafen, liebes Herz?
Wie er munter ist und spielen will!
Du Schelm!

[WANDRER]
Natur, du ewig keimende!
Schaffst jeden zum Genuss des Lebens;
Deine Kinder all
Hast muetterlich mit einem
Erbteil ausgestattet,
Einer Huette.
Hoch baut die Schwalb' am Architrav,
Unfuehlend, welchen Zierat
Sie verklebt,
Die Raup' umspinnt den goldnen Zweig
Zum Winterhaus fuer ihre Brut,
Und du flickst zwischen der Vergangenheit,
Erhabne Truemmer
Fuer dein Beduerfnis
Eine Huett', o Mensch,
Geniessest ueber Graebern. --
Leb wohl, du gluecklich Weib!

[FRAU]
Du willst nicht bleiben?

[WANDRER]
Gott erhalt' euch,
Segn' euren Knaben!

[FRAU]
Glueck auf den Weg!

[WANDRER]
Wohin fuehrt mich der Weg
Dort uebern Berg?

[FRAU]
Nach Cuma.

[WANDRER]
Wie weit ist's hin?

[FRAU]
Drei Meilen gut.

[WANDRER]
Leb' wohl! --
O leite meinen Gang,
Natur, den Fremdlingsreisetritt,
Den ueber Graeber
Heiliger Vergangenheit
Ich wandle.
Leit' ihn zum Schutzort,
Vorm Nord geschuetzet,
Wo dem Mittagsstrahl
Ein Pappelwaeldchen wehrt;
Und kehr' ich dann
Am Abend heim
Zur Huette, vergoldet
Vom letzten Sonnenstrahl,
Lass mich empfangen solch ein Weib,
Den Knaben auf dem Arm.

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