Informationelle Realität - reale Welt - Bewußtsein
Wir stehen heute in einer kulturellen Umbruchsituation,
die vergleichbar ist den großen geschichtlichen Epochenbrüchen,
in denen sich das Welt- und Selbstverständnis der Menschen radikal
wandelte. Wir stehen vor einer zweiten Kopernikanischen Wende, die in das
Leben der Menschen unvergleichlich tiefer eingreifen wird als die uns allen
bekannte erste. Daß die Sonne sich nicht um die Erde dreht,
sondern das Umgekehrte der Fall ist, war eine vergleichsweise harmlose
Erkenntnis. Daß sich sozusagen alles dreht, in beständiger Bewegung
ist in relationalen Verschiebungen und in multidimensionalen Verwandlungen
oder auch Verwerfungen zueinander steht und es keinen archimedischen Punkt
gibt in unserem Wirklichkeitsverständnis, in unserem Welt- und
Selbstverständnis - das ist
das global wirksame Neue, das seinen Zug um die ganze
Erde nun begonnen hat. Heraklits "panta rhei": daß alles in ständigem
Wandel und in ständiger Bewegung sei, ist von einer philosophischen
Spezialmeinung zu universaler Wirklichkeit geworden. Weithin sind wir lebensweltlich
in Schemata und Dimensionen eingebunden, die sozusagen eine natürliche
Mitgift um des Überlebens willen darstellen, mehr aber auch nicht:
für das natürliche Erleben geht die Sonne immer noch im Osten
auf und im Westen unter, der Glanz des Mondes kann uns immer noch
begeistern, auch wenn wir schon längst wissen, daß es bloß
ein kosmischer Stein- und Staubhaufen ist, noch so manch andere Metaphysik
ist im Schwange, auch wenn sich dem aufgeklärten Beobachter
diese schon längst als Illusion erwiesen hat.
Nichts steht mehr fest, weder ein Begriff von Vernunft
noch ein Begriff der Wirklichkeit, an den wir uns sozusagen vorurteilslos
halten könnten. Informationelle Realitaet, reale Welt und Bewusstsein
befinden sich in einem staendig fortschreitenden Prozess der Verschraenkung
sowohl auf der Raum- wie auch der Zeitachse. Die exponentiell sich beschleunigende
Entwicklung informationeller Realitaet erweist sich in diesem relationalen
Gefuege als der dominierende Faktor.
Im folgenden sollen in einem ersten Schritt kurz die
historisch entscheidenden Stufen dieses Interaktionsprozesses rekonstruiert
werden. Im Anschluss daran soll die aktuell erreichte Stufe der Verschränkung
von informationeller Realität, realer Welt und Bewußtsein analysiert
werden. Es wird deutlich werden, welch grundstürzende Veränderungen
für die Identität menschlichen Bewußtseins und die Wahrnehmung
der realen Welt von dieser Entwicklung ausgehen - mit bereits absehbaren
Konsequenzen für die zukünftige Gestalt der realen Welt selbst.
1. Historisch entscheidende Stufen des Interaktionsprozesses
von informationeller Realität, realer Welt und Bewußtsein bis
zum Eintritt der
Computer-Netzwerke in die Geschichte (Internet)
Dass der Mensch einen virtuellen Raum und eine virtuelle
Zeit mit virtuellen Informationen verschiedenster Quantitaet und Qualitaet,
die sie ausfüllen, kreieren konnte, verdanken wir einer besonderen
Eigenschaft der Spezies Mensch: Im Laufe der Evolution der Primaten bildete
sich zusammen mit den erhöhten Anforderungen an die Planung von Handlungen,
an das Vorstellungsvermögen, das strategische Denken und die komplexe
soziale Interaktion eine virtuelle Welt aus. In dieser Welt gibt es einen
virtuellen Akteur, ein Ego, das plant, handelt und kommuniziert,
ohne sich um die tatsächlichen "Ausführungsbestimmungen"
kümmern zu müssen, die dann
Sache des übrigen Gehirns ist. Erst die "Erfindung"
dieses virtuellen Ich, das jedem von uns als sein Bewußtsein
von sich selbst und der realen Welt vertraut ist, ermöglichte
ein Überleben in jener komplexen, stark fluktuierenden biologischen
und sozialen Welt, in der wir Menschen leben. Die Erfindung einer
Welt des Bewußtseins, mit dem das Ich scheinbar direkt die reale
Welt wahrnimmt und auf sie direkt einwirkt, ohne dass es sich um die unendlich
komplizierten neuronalen Prozesse kümmern muss, die im Gehirn dazwischen
geschaltet sind, scheint ausserordentlich vorteilhaft zu sein. Abgesehen
von den schon genannten Vorteilen für den Entwurf von Überlebensstrategien
ganz allgemein und die Planung von speziellen Handlungen im besonderen
erlaubt diese virtuelle Realtität des Bewußtseins das Sprechen
mit Hilfe einer komplizierten syntaktischen Sprache. Die spezifisch menschliche
Sprache ist die erste Manifestation bzw.Expression der virtuellen Realitaet
des menschlichen Ego, durch die sich dieses selbst in seiner Existenz bestätigt.
Die Sprache ist somit die erste Ausgründung jener virtuellen Struktur,
die im physischen Dasein des Menschen inkorporiert ist. Wie das virtuelle
Ego das reale Gehirn benötigt, um Informationen mit der realen Welt
austauschen zu können, so benutzt die Sprache die realen Laute, also
Elemente der physikalischen Welt, um die virtuellen Informationen transportieren
zu können, die es mit anderen
austauschen möchte. Dieses Verstehen geschieht
im virtuellen Raum und der virtuellen Zeit des Bewußtseins und wiederum
ohne irgendwelche bewußte Bezugnahme auf die komplexen neuronalen
Prozesse in verschiedensten Hirnregionen, die wir beispielsweise durch
die modernen bildgebenden Verfahren so schoen sichtbar machen können.
Unserem Bewußtsein bleiben im Prozeß des Verstehens diese dazwischen
geschalteten neuronalen Prozesse völlig verborgen, ja das Gehirn leugnet
sogar für unser Bewußtsein -wie der amerikanische Neurobiologe
Benjamin Libet gezeigt hat- die 300-500 ms, die es selbst benötigt,
um beispielsweise aus einer Reizung der Sinnesorgane eine bewußte
Wahrnehmung zu machen (Libet B: Neuronal vs. subjective timing for a conscious
sensory
experience. In: Buser PA, Rougeul Buser A: Cerebral Correlates
of Conscious Experience. Amsterdam : Elsevier/North-Holland, 1978:69-82).
Ein weiterer, allerdings für das Überleben der
Menschheit zunächst nicht so bedeutsamer Schritt war der Versuch,
mittels Schrift den in Sprache ausgedrückten virtuellen Gehalt, diese
spezifische informationelle Realität also aus dem Raum der grundlegendsten
Ausgründung des virtuellen Ego "dingfest" zu machen. Ja man kann Schrift
dahingehend interpretieren, dass sie den Versuch darstellt, den virtuellen
Raum der Sprache, den man nicht fassen kann und die virtuelle Zeit, die
der flüchtige Gedanke durchmisst, zu bewältigen und gleichsam
in ehernen Lettern der realen Welt einzuverleiben. Wir haben es also mit
dem Versuch der Einbewältigung des nach Kriterien der realen Welt
nicht fassbaren virtuellen informationellen Gehalts zu tun, dem ein
Dasein gegeben werden soll, das keinen
Unterschied mehr zur realen Welt zulässt. Diese
Verläßlichkeitssicherung der Virtualität, die die Schrift
leistet, können wir in unserem eigenen Leben noch in Überbleibseln
archaischer Verhaltensmuster nachvollziehen. Wenn wir beispielsweise jemandem,
mit dem wir geschäftlich zu tun haben, nicht über den Weg trauen,
dann fordern wir in der Regel, er oder sie möge uns doch die Zusage,
die Vereinbarung etc. schriftlich geben. Wir wollen damit eine stärkere
Eingründung des sprachlich-virtuell Geäußerten in
der realen Welt und deren Verbindlichkeits- bzw. Nachprüfbarkeitskriterien.
Andererseits ermöglichte dieses Medium der Schrift
den vom direkt sich äußernden Bewußtsein unabhängigen
Transport informationeller Realität und damit eine weitere Verselbständigung
des virtuellen Raums. Es bedarf fortan nicht mehr eines in einer virtuellen
Welt agierenden anderen Ego, durch dessen Kommunikationseröffnung
ich in den Raum der zu übermittelnden informationellen Realität
hineingenommen werde. Der andere wird hier vielmehr substituiert durch
die Schrift, die unabhängig von einem kommunizierenden Individuum
die zu übermittelnde informationelle Realität bewahrt. Sie ist
der virtuellen Raumzeit des Einzelbewußtseins enthoben und
kann deshalb in völlig anderen Räumen und Zeiten auftauchen,
solange das Material überdauert (zB die Tontafeln, auf die geschrieben
wurde, die Papyrusrollen etc.) Die Herkunft aus der virtuellen Raumzeit
aber macht sich spätestens dann wieder bemerkbar, wenn die
Zeichen mehrdeutig sind und der Interpret den Schreiber
oder seinen Auftragggeber als Kommunikationspartner bräuchte, um die
Eindeutigkeit der Aussage sicherzustellen. Wir sind dann immer etwas verdutzt
darüber, dass die Schrift in eindeutigen Zeichen vor uns steht, wir
aber dieses so fest Vorgegebene dennoch verschieden deuten können.
Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks hat dem Prozess der
Verselbständigung informationeller Realität zu universaler Ausbreitung
verholfen. Die Möglichkeit der im Vergleich zu den mittelalterlichen
Schreibstuben raschen Herstellung zahlreicher Exemplare des selben Buches
sowie eine raschere Abfolge immer neuer Bücher sorgte für eine
Dynamisierung der Ausbreitung informationeller Realität in der realen
Welt. Was in diesen Büchern stand, fand seinen konkreten Niederschlag
in der wissenschaftlich-technischen, sozialen und kulturellen Umgestaltung
der realen Welt. Nach den Printmedien kamen die auditiven und schließlich
die visuellen Medien. Sie alle verarbeiten Bewusstseinsinhalte, die uns
mit technischen Hilfsmitteln zugeführt werden. Was dem Griechen die
Schrift war als Ausdruck
und Vehikel informationeller Realität, das ist dem
Menschen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Film- bzw. Fernseh-Kamera,
die mit dem Wort der Sprecher Bild und Text zu einer neuen Einheit zusammenführt.
Die vormediale Welt kannte diese Einheit nicht. Für das Bild waren
die Künste mit ihrer Imaginationskraft zuständig, für
den Text die Welt der Gelehrten. Nunmehr kann eine Nähe zu der
übermittelten informationellen Realität erreicht werden, die
die Schrift nicht kannte. Diese Nähe verdankt ihre Wirkmacht der scheinhaften
Aufhebung der virtuellen Realität, die nun im Gewande der realen via
Fernsehen oder Film uns übermittelt
wird. Andererseits ist die durchs Bildmedium mir
übermittelte reale Welt mir so nah, dass die virtuelle Realität
praktisch unbemerkt wiederkehrt. Im Medien-Bild kann ich -wenn auch nur
imaginär- die bestimmte Zeit und den bestimmten Raum verlassen,
in dem ich mich befinde, indem lebendige Bilder, bewegte Gestalten
wie lebendige Wesen an mir vorbeiziehen, als wären sie meine Nachbarn
und ich in ihrem Raum und in ihrer Zeit, wobei ich selbst
allerdings in diesen Bildern als sichtbare Gestalt nicht aktiv vorkommen
kann, ich bin sozusagen den Bildgestalten zeitgenössischer Zuschauer
in deren Welt, die aber real nicht die meine ist. Und nun kommt eine
Eigengesetzlichkeit der Informationsverarbeitung zum Tragen, auf
die uns erst die moderne Hirnforschung aufmerksam gemacht hat:
Der Mensch, der sich mit seinem Gehirn sozusagen
in diese Medienwelt eingeklinkt hat, verlangt nach weiterer Veränderung,
nach Steigerung der Intensitätskomponenten, die in diese Medien-Bilderwelt
eingebaut sind, sonst wird es ihm langweilig. Je länger wir mit den
gleichen Informationen und den gleichen in sie eingebauten Intensitätskomponenten
umgehen - und es scheint sich ja unglaublich zu wiederholen, was da alles
medial abläuft -, umso mehr muß das abstrahiert, akzeleriert,
also beschleunigt, müssen überhaupt die Intensitätskomponenten
angehoben werden. Ich gebe ein Beispiel: Wenn der Film so langsam wie in
den 50er Jahren wäre, als es drei Minuten vom Schlafzimmer bis zum
Badezimmer dauerte, würden wir heute einschlafen. Wohl nicht so sehr,
weil unser Gehirn in
jeder Hinsicht schneller wäre; entscheidend ist,
daß das Gehirn zu sogenannten Superzeichenbildungen fähig
ist: Wir wissen eben schon, was nach dem Schlafzimmer im Film kommt.
Daher können wir einfach abkürzen. Wir haben schon die Filmerfahrung.
Das ist nicht mehr so wie bei den ersten Filmen, als die Dampflok
auf der Leinwand erschien und die Leute aus dem Kino rannten, weil
sie dachten, der Zug komme in den Kinosaal. Das wird immer mehr reines
Zeichen, immer weniger Lebenskontext und muß dadurch
als Zeichen immer schneller aufeinanderfolgen,
immer abstrakter werden, um Leben überhaupt noch transportieren zu
können. Es muß abstrakter werden, damit noch Lebenskonnotationen
hineinkommen. Gleichzeitig müssen die Intensitätskomponenten,
das
Reizmaterial verstärkt werden, damit das Ganze nicht
zu formal wird. Zunehmende Formalisierung und zunehmende Reizeffektverstärkung
sind sozusagen die geschwisterlichen Vehikel der medialen Bildentwicklung.
Damit haben wir aber nur eine Phase und eine strukturelle Eigenschaft
des Medien-Bildes erfaßt. Ich stellte vorhin fest, daß im Medien-Bild
der ersten Stufe, wie ich es genannt habe, ich als Zuschauer immerhin schon
- wenn auch nur imaginär - die bestimmte Zeit und den bestimmten
Raum, in dem ich mich befinde, verlassen kann, indem Bilder, bewegte Gestalten
wie lebendige Wesen an mir vorbeiziehen, als wären sie meine
Nachbarn und ich in ihrem Raum und in ihrer Zeit, wobei
ich selbst allerdings in diesen Bildern als sichtbare Gestalt nicht aktiv
vorkommen kann, ich bin sozusagen den Bildgestalten zeitgenössischer
Zuschauer in deren Welt, die aber real nicht die meine ist.
Diese geschilderte Struktur ist mir fest vorgegeben,
ich kann sie nicht ändern, außer ich verlasse den Film oder
wechsle per Tastendruck das Programm. Wir haben es hier also mit einer
asymmetrischen Struktur zu tun, sie ist nicht interaktiv, sondern monopolisierend.
Daher verträgt sie sich politisch mit jedem System, das über
sie verfügt, mit Diktaturen genauso wie mit Demokratien. Fernsehen
gab und gibt es in beiden. Auf dieser Ebene der Bild-Welt vollzieht sich
Persönlichkeitsbildung vorwiegend anhand von Leitbildern der Massenmedien,
wir begegnen im Alltag zunehmend medientypisch gestylten Figuren. Mediale
Eigentümlichkeiten werden somit auch außerhalb der Medien
zu Realbeständen der Wirklichkeit. Nicht nur die mediale Präsentation
von Wirklichkeit, sondern die extramediale Wirklichkeit
selbst ist fortan von medialen Determinanten durchzogen.
Letzteres Beispiel macht noch einmal die Asymmetrie deutlich, die mit der
bisherigen Struktur informationeller Realität unaufhebbar verbunden
war und zugleich determinierende, also bei aller Freiheitsermöglichung
zugleich freiheitsbeschränkende Bedeutung hatte.
2. Die Verschränkung von informationeller Realität, realer Welt und Bewußtsein im Zeitalter der Computer-Netzwerke (Internet)
Es ist nun eine wirklich revolutionäre, in
ihren kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen grundstürzende
Entwicklung, als mit dem Fortschritt der modernen Computer-Technik und
ihrem Verbund in Netzwerken die eben skizzierte Asymmetrie zugunsten interaktiver
Strukturen auch technisch überwindbar wurde. Eine bestimmte
Form der Verselbständigung der virtuellen Realität gegenüber
dem kommunizierenden Bewußtsein, die mit der Schrift begann und mit
dem modernen Medien-Bild zur Perfektion getrieben wurde, wird nun wieder
zurückgenommen. Virtuelle Realität, die ihren Ursprung in der
Virtualität des menschlichen Ego hat,
wird wieder in das Eigentum kommunizierender Subjekte
zurückgegeben. An die Stelle einer bloß rezeptiven und reaktiven
Haltung, die den bisherigen Umgang mit verselbständigter virtueller
Realität in Schrift, Ton und Bild bestimmte, tritt die interaktive
Beteiligung des erkennenden Subjekts.
Eine neue Virtualität etabliert sich: Sie ist einerseits
nicht ausschliesslich abhaengig von Kommunikationsakten einzelner Subjekte
- das Netz mit seiner vielschichtigen informationellen Realität ist
da, auch wenn ich nicht eingeloggt bin. Andererseits bricht sich mein Kommunikationswille
nicht an den Mauern abgeschotteter Zulassungsinstanzen, die darüber
befinden, was als Schrift und Bild in den allgemeinen Kommunikationsprozess
eingehen darf. Die bisherigen Formen verselbständigter virtueller
Realität, also Schrift und Bild, erlaubten die Ausbildung von Monopolen,
die gewinnbringend sich dieser Selbständigkeit bemächtigten und
die Zulassungsbedingungen für die Partizipation definierten. Monopolisierung
der Zugangschancen zu informationeller Realität und reaktiver bzw.
rezeptiver
Charakter des Verhältnisses zu ihr gehören
unaufhebbar zusammen.
Damit hat es nun definitiv ein Ende, auch wenn es natürlich
noch die einen oder anderen Nachhutgefechte gibt. Im Netz ist praktisch
jeder gleich, jeder kann sich einbringen und für seine Ziele werben,
seine Erkenntnisse mitteilen und noch bestehenden Monopolen das Fürchten
lehren. "Information wants to be free". Dieser Leitsatz John Gilmores
drückt das ganz neue Verhältnis des erkennenden und handelnden
Subjekts zu informationeller Realität aus, das ihr zu bisher nicht
gekannter Ausweitung und Einflussnahme auf das Leben der Menschen verhelfen
wird. Parallel zu den exponentiell sich beschleunigenden Fortschritten
im Bereich von hardware und software wird sich auch der Interaktionsprozess
zwischen informationeller Realität, realer Welt und Bewußtsein
beschleunigen und intensivieren. Was
ich meine, lässt sich am besten an folgendem Beispiel
veranschaulichen. Es ist zwar auf einen ganz konkreten Anwendungsbereich
bezogen, lässt aber durchaus eine Extrapolation auf weitere
Perspektiven zu. Mithilfe eines neuen Computer-Verfahrens werden Reparatur-
und Wartungsarbeiten an Maschinen auf eine völlig neue Grundlage gestellt.
"Augmented Reality" (erweiterte Realität) erlaubt Defizite der natürlichen
Wahrnehmung der realen Welt, hier beispielsweise der Realität der
Maschine auszugleichen durch einen Input computervermittelter informationeller
Realität in die Gesamtwahrnehmung des Objekts.
„Bei Augmented Reality geht es im Kern darum, die reale
Ansicht eines Objekts mit virtuellen Welten zu überlagern“, umreißt
Stefan Müller vom Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung
(IGD) die Idee für die neue Zusammenschau. Reale und virtuelle
Information verschmelzen zu einem neuen Überblick auf die Maschinerie.
Die Orientierung wird leichter, die Zusammenhänge klarer, der
Griff sicherer und die Reparaturzeit kürzer. „Vor allem mussten wir
dem Computer beibringen, wohin der Benutzer gerade schaut“, erklärt
Stefan Müller, Leiter der Abteilung Visualisierung und Virtuelle
Realität am Darmstädter IGD. Ein Positionssensor auf der Datenbrille
registriert jede Bewegung des Monteurs. Das Programm passt dann in
Bruchteilen von Sekunden die digitalen Überblendungen auf der Datenbrille
der neuen Blickrichtung an.
Gespeichert sind die Graphiken und erklärenden Texte
in einem Kleincomputer, der zum Beispiel am Gürtel getragen wird.
Beschickt werden kann der Minirechner mit beliebigem Datenmaterial.
Selbst eigene Skizzen lassen sich damit bei der Reparatur in Augenschein
nehmen. Per Funk lassen sich sogar Bedienungsanleitungen und Installations-Informationen
über einen Server direkt aus dem Internet auf die Brillengläser
projizieren. (Den Prototyp eines digitalen Maschinen-Handbuchs stellte
Peter Elzer von der Technischen Universität Clausthal auf der
letzten Interkama, der internationalen Fachmesse für Automatisierungsverfahren,
vor. Das Clausthaler Computerprogramm läuft auf jedem Rechnersystem,
unabhängig von der Hardware und ihrem Betriebssystem.)
Seit etwa drei Jahren gibt es Forschungen auf dem Gebiet
Augmented Reality. Doch schon zeichnet sich ein weites Anwendungsfeld
der neuen Wahrnehmungs-Technik ab. Beim Verlegen der umfangreichen Kabelbäume
in einem Flugzeug etwa zeigt das Augendisplay dem Monteur den genauen
Weg der einzelnen Leitungen und ihre Verschaltungen. Der Gang durchs Museum
lässt sich nach eigenem Gusto und mit individuellen Informationen
gestalten – unabhängig von den Führungen zu festen Zeiten. Im
Operationssaal holt der Chirurg sich die medizinischen Parameter seines
Patienten auf die halbdurchlässigen Gläser oder den im Vorfeld
geplanten, virtuellen Ablauf des Eingriffs. Mit Datenbrillen ausgerüstete
Stadtplaner durchstreifen die Straßen, um beispielsweise die ästhetische
Wirkung
einer neuen Fußgängerbrücke zu beurteilen.
Die Fraunhofer-Ingenieure sind allerdings mit dem head
mounted display noch nicht ganz zufrieden. Technisch elegantere Lösungen
werden ins Auge gefasst, die allerdings eine noch viel weiter entwickelte
Technologie voraussetzen. Man denkt an die Möglichkeit der Konstruktion
eines Virtual Retinal Display. Beim Virtual Retinal Display, so ihre
Vision, wird das digitale Bild mit Lasern direkt auf die Netzhaut
gezeichnet.
Aus diesem Beispiel laesst sich sehr konkret eine neue
Stufe des Prozesses der Interaktion und Integration von virtueller Realität,
realer Welt und Bewußtsein ablesen. Hatte informationelle Realität
bisher Auswirkungen auf den Menschen und sein Handeln über das
Einfallstor des Bewußtseins, so erreichen wir nun eine neue
Stufe, auf der biologische Systeme und Systeme computervermittelter
informationeller Realität schon auf der biologischen
Ebene immer weiter zusammenwachsen. Angesichts der zunehmenden Komplexität
der realen Welt durch die sich beschleunigende Integration computervermittelter
informationeller Realität reichen unsere biologischen Systeme vielfach
nicht mehr zur Bewältigung dieser Komplexität aus. Wir stossen
immer wieder auf Defizite genannt "menschliche Unzulänglichkeit"
oder schlicht die durch Kapazitätsgrenzen bedingte Unmöglichkeit,
mit vorgegebenen Problemlagen fertig zu werden. Informationelle Realität
kann mit Bio-Systemen verknüpft werden und solche Defizite
überwinden helfen. Wege hierzu werden durch die Neurowissenschaften
ebenso wie durch die molekularbiologische Forschung gebahnt. Das Gehirn
beispielsweise als interface zwischen Biosystem und informationstechnologisch
hergestellter Realität - seit der Implantation eines Mikrochips, der
das Sehen wieder ermöglichte, ist das keine Utopie, sondern
eine Richtung, in die wir weiter fortschreiten werden. Freilich stellen
sich hier auch wichtige ethische und gesellschaftspolitische Fragen, die
eingehender Erörterung bedürfen. Trotzdem: Der Begriff
der "augmented reality" hat über seinen oben geschilderten aktuellen
Verwendungshorizont hinaus zukunftsweisende Bedeutung. Um uns in der immer
komplexer werdenden realen Welt zurechtzufinden, bedürfen wir der
präzisen Informationen und ihrer schnellen Proliferation, für
die Raum und Zeit minimale, also auf 0 gehende
Verzögerungsgrößen sind. Informationelle Realität
entwickelt sich in diesem Prozeß der fortschreitenden Integration
in die reale Welt zur Überlebensgröße. Mithilfe von
Simulationsmodellen erschließen sich uns Funktionsstrukturen, die
wir für bedarfsgerechte Anwendungsstrategien nutzen können. Handlungsoptionen
erhalten eine zusätzliche Absicherung. Informationelle Realität
schiebt sich so - allein schon aus Überlebensgründen- tendenziell
immer mehr in den Vordergrund des Bewußtseins, das immer mehr die
reale Welt im Lichte der informationellen Realität wahrzunehmen sich
gewöhnt. Wurde in klassischen Zeiten seligen Welterlebens, als die
Dominanz der realen Welt noch allerlei numinosen Gestaltungsprinzipien
Raum gab, Wahrheit bestimmt als adaequatio rei
et intellectus, als eine Angleichung des Intellekts an die von sich her
vorgegebene und für alle Zeiten feststehende "Sache", so findet
im informationstechnologisch orientierten Zeitalter geradezu eine Umkehrung
dieser Gleichung statt. Dh die Sache selbst wird nun dem intellectus angeglichen.
Informationelle Realität avanciert zu der Größe, an der
die reale Welt gemessen wird. Dies hat grundstürzende Folgen für
die Identität unseres Bewußtseins.
Die bisherige Bewußtseins- und Weltverständnistradition
hat dieses Ich und sein Bewußtsein stets inhaltlich fixiert mit mehr
oder weniger großen Variationsbreiten innerhalb sanktionierter inhaltlicher
Kontexte. Sie waren bestimmt durch einen definierten Raum und eine definierte
Zeit, die zur Abhebung von anderen Räumen und Zeiten und damit
anderen Identitätskontexten dienten. Durch die Natur der virtuellen
Realität heben sich solche Verankerungen in divergierenden Räumen
und Zeiten auf. In der virtuellen Realität ist alles gleichzeitig
und überall. Die Raum-Zeit-Determination der genannten Kontexte ist
aufgehoben. In der virtuellen Realität entfällt der Zwang zur
Identitätsbildung im traditionellen Sinne. Die Identität des
Ich und seines Bewußtseins konstituiert sich
nunmehr nach Maßgabe der Fähigkeit, die beständig
sich wandelnde informationelle Realität zu integrieren, und nicht
mehr durch Fixierung auf einen bestimmten Inhalt und dessen Dogmatisierung.
Es ist gleichsam Identität auf einem ständigen Prüfstand,
die sich dem trial -and - error - Prinzip unterwirft. "Ich bin viele" -
diese provozierend - ueberzogene Formulierung Sherry Turkles vom "Massachussets
Institute of Technology"(MIT) zur Beschreibung der neuen Identitätsstruktur
deutet die Richtung an, in der sich die Adaptation des Subjekts an die
zunehmende Dominanz der virtuellen Realität vollziehen wird.
Es tritt nun in praxi jene Formalisierung der Identität ein, die Immanuel
Kant in der Theorie des freien Subjekts in seiner "Kritik der reinen Vernunft"
dem transzendentalen Ich vindizierte. "...dadurch, dass ich das Mannigfaltige
der <Vorstellungen> in einem Bewußtsein begreifen kann -heisst
es bei Kant- nenne ich dieselben insgesamt meine Vorstellungen, denn sonst
würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich
Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin." (Kant: Kritik der
reinen Vernunft, B134)
Kant unterscheidet dieses Selbst scharf von der empirischen
Einheit des Bewußtseins (vgl. ebenda B139), die -wie
die ganze Welt des Empirischen- sich vielfältig darstellt und ständigem
Wandel unterliegt. Ohne etwas von der künftigen Bedeutung computervermittelter
informationeller Realität ahnen zu können, hat Kant mit
seiner Theorie des transzendentalen Ich der Formalisierung der Identität
des Bewußtseins den Weg gewiesen und es von den Ketten traditionaler,
empirisch-kontingenter Beschränkungen befreit.
Unter den Bedingungen des fortgeschrittenen Integrationsprozesses
von informationeller Realität, realer Welt und Bewußtsein bedarf
es dieser Formalisierung der Identität, um die Flexibilität des
empirischen Ich zu sichern, das so vor jeglicher dogmatischen Fixierung
bewahrt wird. Ich kann zwar als empirisches Ich vieles sein, ja muss es
im Sinne des trial and error-Prinzips sein können, und bin doch ein
Ich. Die zunehmende Dominanz informationeller Realität über die
reale Welt erfordert gleichsam in Parallelität die Dominanz des formalisierten
Ich über das empirische Bewußtsein, das so offen bleiben kann
für innovative Veränderungen aus dem Bereich der virtuellen Realität.
Wollte man diesen Strukturwandel in einem Bild zusammenfassen,
so wäre es etwa so zu skizzieren: die alltägliche Wirklichkeit,
die reale Welt wird sowohl auf der Raum- wie auch der Zeitachse zu einem
weiteren Fenster auf dem Schirm des Bewußtseins neben vielen anderen
Fenstern, die ich anklicken kann. Die Kommunikation und Interaktion der
verschiedenen Fenster untereinander, das ist die grundstürzende Veränderung,
die das Neue erschließt.
Damit eröffnen sich ungeahnte Freiheitsräume
für die Zukunft, die eine Zukunft der "augmented reality" sein wird.
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