Was ist Aufklärung?
oder: Philosophie im VIF?

Ein Versuch

19.03.99

Zweimal Kant

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen ...
Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

(Immanuel Kant, 1784)

Wenn der kleine, schwächliche Mann mit der titanischen Denkkraft, dem verkrümmten Rücken und der aufrechten Haltung, der eingefallenen Brust und dem großen, tiefmenschlichen Herzen unversehens in unseren Tagen wieder aufwachen würde ... und wenn er dann gehetzten Menschen mit angespannt-mürrischen Gesichtern und unruhigen Blicken begegnete und ihre grauen Seelen ahnte ... und wenn er dann auch noch sähe

daß sie breitgeschult und doch gedankenlos sind,
daß sie sich emanzipiert wähnen und doch manipulierbar sind,
daß sie treiben wollen und doch getrieben werden,
daß sie alles mitmachen und doch an nichts mehr glauben,
daß sie in Massen leben und doch vereinzelt sind,
daß sie Gerechtigkeit wollen, aber nur für sich,
daß sie geliebt werden wollen, aber selbst lieblos sind ...

wenn das alles auf ihn einstürzte, würde er - nachdem er sein Aufwachen tief beklagt hätte - wohl nur noch stammeln können: Alles vergebens ...?

Gegen das Halbdunkel

Die Philosophiegruppe des VIF hätte Kant wohl mit einem bescheidenen "Nein" geantwortet. Sie bildet sich natürlich nicht ein, sie könne die ermattete Aufklärung wieder auf Trab bringen - denn dafür sind die Umstände ungünstig: eine gesellschaftliche Atmosphäre der Dämmerung, gekennzeichnet durch eine Stimmungslage, die zwischen Gereiztheit und Lethargie, Angst und schrillen Illusionen oszilliert. Feindesland für jedes ethisch motivierte Engagement.
Doch Menschen, die Menschen sein wollen und die in der Menschenwürde ihre innerste Triebfeder finden, streben nach Wahrheit ... und stehen damit bereits in der Philosophie. Wahrheit - griechisch "aletheia", die Unverborgenheit - will die Dinge aus dem Halbschatten dumpfer Vorurteile, Ängste und Selbsttäuschungen ans Licht ziehen, will klar machen ... aufklären. Spätestens hier dürfte erkennbar sein, was das mit den Arbeitslosen zu tun hat: Durch offene Ausgrenzung und mehr noch durch subtile werden sie in dieses Schattenreich abgedrängt, wo sich ihnen nicht nur der Blick verdunkelt, sondern auch die Selbstachtung zersetzt.

Von der Theorie zur Praxis

Was will die Philosophiegruppe nun "konkret"? Doch Halt! - die Frage ist falsch gestellt. Philosophie ist keine Wissenschaft! Sie löst keine wohlumrissenen (konkreten) Teilprobleme mit Hilfe schematisierter Methoden; sie hat deshalb auch keinen allgemein akzeptierten Wissensbestand, auf den sie unbekümmert weiter aufbauen könnte. Sie nähert sich dem Wirklichen von der anderen Seite: Philosophie fragt nach dem Ganzen, und sie fragt immer wieder neu, weil sich der Blick des Menschen immer wieder neu auf das Wirkliche richtet. Unter dem Ganzen versteht sie die letzten Gründe, die Fundamente, auf denen alles - auch die Wissenschaft! - ruht, den Mutterboden, dem alle Kultur entwächst. Die Griechen nannten es "das Sein". Philosophie ist somit Ursprungs"wissenschaft".

Die philosophische Moderne, die die Götter entthront hat, stellt mit Kant die zentrale Frage: Was ist der Mensch? Gemeint ist damit die Frage nach den letzten Prämissen meines Denkens und Handelns, nach der Stellung des Menschen in der Welt, nach seinem Wert und seiner Würde. Damit liegt die Philosophie vor aller Wissenschaft und technischen Praxis, ist aber nicht vorwissenschaftlich und unpraktisch.

Sie muß heute fragen nach den brüchigen Fundamenten einer verunglückten Moderne, nach dem ausgedörrten "Mutter"boden einer orientierungslosen Konsummentalität und nach den Wurzeln oder der Wurzellosigkeit meines eigenen Daseins. Und indem der Philosophierende fragend an seinen eigenen Fundamenten rüttelt und an denen der Kultur, die ihn trägt, wird er im besten Sinne des Wortes "erschüttert". Wenn er dabei Mut und Wahrheitsliebe nicht verliert, kann er sich läutern. An diesem Punkt schlägt Denken in "inneres Handeln" um, Erkenntnis wird zur Praxis ,zur Arbeit am Menschlichen selbst, zu Selbsterziehung, Selbststärkung und Selbstbefreiung (Emanzipation).

Philosophie und die soziale Frage

Nun kann die soeben verworfene Frage neu gestellt werden: Was stellt die VIF-Philosophiegruppe in die Mitte ihres Denkens? Den Menschen - insbesondere den Arbeitslosen. Und was haben wir für ein Bild von ihm? Ein doppeltes, es ist im einleitenden Kant-Text und der anschließenden Fiktion angedeutet. Sein Idealbild - die unaufgebbare Utopie des Menschlichen - und sein Realbild stehen hier gegeneinander. Trägt das zur Lösung des Arbeitslosenproblems bei? ... Wir meinen, daß gegenwärtige Problemlage nicht nur durch äußere Maßnahmen politischer oder wirtschaftlicher Art beruhigt werden kann - es muß ihnen aufklärerische "innere Arbeit", die eine kollektive Bewußtseinsänderung anzustoßen hofft, unterstützend entgegenkommen. Ja, wir glauben, daß nur eine veränderte Einstellung zum Humanen Reformen möglich macht, die nicht nur "sozialverträglich", sondern im besten Sinne auch gerecht sind. Denn erst ein breites Bekenntnis zur Würde des Menschen kann sich kraftvoll dem Primat der Ökonomie entgegenstemmen und den Menschen dort hinstellen, wo er hingehört: in die Mitte! Das setzt aber, wie schon gesagt, Ermutigung zum Denken voraus.

Also:

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!


© 1999 Horst Johannsmann

zuletzt geändert 19.3.1999       WebMaster G. Aust gottfried-aust@rocketmail.com