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Kultur – Sonntags-Zeitung

(www.sonntagszeitung.ch/1998/sz20/192679.HTM)

Klassischer Workaholic

Unter der Leitung von Valery Gergiev spielt das altehrwürdige St.Petersburger Mariinskij-Theater wieder in der höchsten Weltklasse mit

VON CHRISTINE CLAUSSEN

Dirigent und Intendant Valery Gergiev hat das Wunder fertiggebracht: Mit musikalischen Höchstleistungen, genialer Marketingstrategie und mitreissender Arbeitswut hat er das legendäre Mariinskij-Theater in St. Petersburg wieder an die Weltspitze geführt.

Valery Abissalowitsch Gergiev hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Gerade noch dirigierte er Wagners "Parsifal", als suche er selbst nach dem Gral, und es war wie die Erschaffung der Welt. Da stürmt er, ganz entspannt und grinsend wie ein Ganove, durch die engen Gänge des Mariinskij-Theaters. Als lägen nicht sechs Stunden Pultarbeit hinter ihm, sondern ein Vormittag finnisches Dampfbad. Frackjacke über den Schultern, Fliege in der Hand, bahnt er sich seinen Weg durch die erschöpften Musiker. Nimmt lächelnd Komplimente entgegen, spricht hier und da ein verbindliches Wort und verschwindet im Direktorenzimmer.

"Aber Maestro", mahnt Marta Petrowka, "Sie können sich jetzt nicht einfach einschliessen. Es warten so viele Leute vor der Tür." - "Ich weiss", antwortet Gergiev ebenso sanft wie entschieden, "es warten immer viele Leute. Ich werde nachher wieder da sein. Muss ich etwas unterschreiben? O. k. Lassen Sie jetzt keinen mehr rein. Diese Anrufe sind wichtig."

Es ist Mitternacht. Und als Marta Petrowka die Tür schliesst, sieht sie die Menschen draussen: die goldblonde finnische Mäzenin im Nerz, den Konzertagenten aus Mailand, den jungen Gastkapellmeister, der gestern "Don Carlo" dirigierte, den Verwaltungs- und den Planungschef, die Ballettmeisterin, Zelensky, den Startänzer, und all die anderen - wie jede Nacht, bloss dass die Besetzung wechselt. Da seufzt Marta Petrowka: Es wird wieder halb vier.

Sieben Monate im Jahr ist Gergiev auf Reisen

Niemand weiss, wann Gergiev schläft, nicht einmal seine Sekretärin. Die mit ihm arbeiten, brechen reihenweise zusammen, aber über Gergiev wundert sich längst keiner mehr. So sehr haben sie sich an die Energie des Maestro gewöhnt, sein unheimliches Pensum. Valery Gergiev ist nicht nur gleichzeitig Intendant und Chefdirigent des legendären St. Petersburger Mariinskij-Theaters - er ist auch Erster Gastdirigent an der Met, leitet die Rotterdamer Philharmoniker, hat vier Festivals von Finnland bis Israel ins Leben gerufen, die er jedes Jahr dirigiert. Weltweit liegen ihm die Damen zu Füssen. Stehen die Autogrammjäger Schlange. Die Kritiker haben ihn dreimal zum "Dirigenten des Jahres" ernannt und feiern den 45jährigen als "Prometheus" und als "Titan".

Sieben Monate im Jahr ist Gergiev auf Reisen. Aber sein Herz - das gehört dem Mariinskij. Nicht nur hat das traditionsreiche St. Petersburger Opernhaus dem intrigenzerquälten Moskauer Bolschoi schon lange den Rang abgelaufen - seit Gergiev rangiert es auch wieder unter den Top of the World.

Minzparfaitgrün liegt der Prachtpalast zwischen Kryukow-Kanal und Theaterplatz, als sei er noch immer der Kunsttempel der Zaren, die ihn vor 138 Jahren erbauten. 400 Räume, 1200 Angestellte, rund 1600 Zuschauerplätze und eine Programmverkäuferin, die Deutsch spricht, weil sie nach der Revolution noch die deutsche Schule besuchte.

Wenn abends um sechs die Glocke zum dritten Mal schrillt, die Kristallüster verlöschen und die tanzenden Genien, die Zarenloge, die Goldbalustraden, Karyatiden und Engel im Dunkel versinken, wenn der romanowblaue Vorhang sich auftut, der aussieht wie eine Prunkrobe der Zarin Maria - dann gibt es den Alptraum der St. Petersburger Gegenwart nicht mehr, das Nieselwetter und den scharfen Ostseewind, die aufgerissenen Strassen mit Tramschienen, die wie Skelettknochen aus dem Asphalt ragen, nicht mehr den Gestank der Autos und den schwierigen Alltag.

"Halt!" ruft der Maestro während der Orchesterprobe zu Prokofiews "Liebe zu den drei Orangen". "Die Posaunen dürfen nicht klebrig klingen, nicht so gequetscht. Nicht: dädädädädädädä. Sondern: dicketack, dicketack, dicketack! Es muss hell, transparent sein. Noch einmal!" - "So war es gut. Sie dürfen nicht mechanisch spielen. Es geht nicht um Technik. Die Klangfarben müssen herauskommen, der Charakter."

Wenn Gergiev dirigiert, klingt selbst Tschaikowskys Fünfte wie nie gehörte Musik. Nicht mehr wie Milchreis mit Zimt. Sondern glasklar. Vorwärtsdrängend. Als zöge ein Gewitter im Kaukasus auf. Funkelnd. Wild glitzernd. Wilhelm Furtwängler ist sein Vorbild, "vielleicht der grösste Dirigent aller Zeiten". Weil Furtwängler "diese Ausstrahlung hat, dieses Charisma, das, jenseits von Klang oder Tempo, sein Orchester auf einsame Höhen führt".

Die Aufnahmen des Deutschen waren die erste Musik, die er hörte, als er noch ein Junge im Kaukasus war. Nichts deutete seinerzeit auf seine Karriere hin. Eine Offiziersfamilie, kein Berufsmusiker darunter, seine Mutter kann heute noch keine Noten lesen. Aber die Kinder waren hochmusikalisch. So kam es, dass Valery die Musikschule in Wladikawkas besuchte und widerstrebend Klavierspielen lernte. Seine Lehrerin wusste es freilich damals schon: Valery, sagte sie, wird einmal ein grosser Dirigent.

Und ein grosser Animator: Seit Gergiev da ist, ist das Mariinskij in einer Art Dauerfieber. Kaum haben sich die Türen des Bühneneingangs geschlossen, spürt man den Overdrive. Dann gehen die Uhren schneller, steigt die Temperatur, herrscht ein anderes Licht. Hinter jeder Tür wird gegeigt, posaunt, geharft, koloriert. Langstielige Ballerinen stelzen im grauen Trainingsanzug eilig an Tournee-Containern und Instrumentenkoffern in den Gängen vorbei. Sowjetmänner mit Alltagsgesicht verwandeln sich unversehens in grimmige Tenöre. In der Kantine kippt Klingsor, der weissgepuderte Zauberer aus "Parsifal", zwischen den Akten hastig einen Kaffee. Selbst Buffetdame Olga, die mit dem Dutt, hat das Fieber erfasst: Eh du dich versiehst, ist der Teller mit Matjes- und Randensalat entsorgt.

Fünf bis sechs Neuinszenierungen pro Jahr, oft in Ko-Produktion mit den grossen Opernhäusern des Westens - früher waren es eine oder zwei. Zwei Drittel des Jahres Tourneen. Von Tokio bis Tel Aviv, von Rio bis Rom. Fernseh- und Videoaufnahmen, jede Menge CDs, ausschliesslich bei Philips, internationale Unterstützung durch die Friends of the Kirov Opera. "Gergiev", schwärmt der Bariton Nikolai Putilin, "ist nicht bloss ein Musiker, wie ihn die Erde nur alle 100 Jahre gebiert, er ist auch ein begnadeter Marketing-Mensch."

Frühzeitig hat der Maestro erkannt, dass das Überleben des Mariinskij auf Gedeih und Verderb vom Westen abhängt. Denn vorbei sind die Zeiten, da das System seine Vorzeigebühnen nach Strich und Faden verwöhnte. Heute bekommt das St. Petersburger Zarentheater kaum genug, um die Löhne zu bezahlen. Auch wenn es vielerorts in Russland überhaupt nichts gibt - 300 Dollar für die Künstler im Schnitt: Das reicht zum Sterben eher als zum Leben.

Gergiev bleibt trotz aller Verlockungen in Russland

Die Verlockung des Westens ist denn auch gross. Sängerstars wie Galina Gorchakova oder die Mezzosopranistin Olga Borodina, Ballerinen wie Uljana Lopatkina, zu deren "Schwanensee" stets 200 Verehrer aus Moskau anreisen, würden in London, Mailand und New York mit Handkuss aufgenommen. Auch darum tourt das Mariinskij so viel: um die Stars im Hause zu behalten. "Natürlich wollen die Leute leben und essen. Und zwar gut", sagt Nikolai Putilin. "Aber wichtiger ist es, mit so einem Orchester zusammenzuarbeiten und mit einem Dirigenten wie dem Maestro."

Keiner wird so umworben wie dieser. Es vergeht kaum ein Tag, keine Woche, in der nicht irgendeine Versuchung den Maestro erreicht. Aber Gergiev bleibt. Er blieb schon während der Perestroika, als fast alle gingen. Im allgemeinen Westsog setzte er eigensinnig aufs Authentische, Unverwechselbare. Auf die Russen: auf Sergei Prokofjew, Nicolai Rimski-Korsakow, Michail Glinka, Alexander Borodin, Dmitri Schostakowitsch, Modest Mussorgsky. Machte die Zensur ihrer Werke rückgängig, grub die Urfassungen aus. Mit "Parsifal" nahm er die 80 Jahre verschüttete Wagner-Tradition wieder auf, mit "Macht des Schicksals" Verdis Oper, die 1862 in St. Petersburg uraufgeführt wurde.

"Tradition heisst für mich nicht, ein Ritardando, ein Piano oder Forte an derselben Stelle wie Schaljapin zu machen", sagt er. "Es ist eher eine bestimmte Gefühls- und Klangwelt, die unseren Seelen entspricht." In vielen Ländern ist die nationale Operntradition verlorengegangen. Am Mariinskij hat sie sich - ein Vorteil der kommunistischen Zeit - bewahrt. "Vielleicht sind bei uns Technik, Regie, Choreographie noch nicht topmodern", sagt der Maestro. "Aber wir haben in sehr kurzer Zeit schon so viel geschafft - auch das wird uns gelingen."

Am Abend dirigiert er Skrjabins "Prometheus" und Mussorgskys "Lieder und Tänze des Todes". Und wie er, einem schwarzen Vogel gleich, sein Orchester mit dem rechten Arm anfeuert, vorwärtsdrängt, und den Fingern der linken Hand dämpft und differenziert, wie da der berühmte Kirow-Klang den dunklen Saal mit den Putten erfüllt: dunkel, erregend, intensiv bis ins Pianissimo - da ist man plötzlich auf einsamen Höhen.

 

Christine Claussen arbeitet für "Amadeo" - das Musikmagazin vom "Stern".

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