Erinnerungen an Robert Volkmann.


Ilka Horovitz-Barnay, Neue Freie Presse, 26.4.1904

Als im Jahre 1875 die Landes-Musik-Akademie in Budapest gegründet wurde, genoss ich den Vorzug, bei Franz Liszt Clavierspiel und bei Robert Volkmann Harmonie- und Compositionslehre zu studieren.

Meine Erinnerungen an die unvergessliche Lehrzeit bei Meister Liszt habe ich vor einiger Zeit in der "Deutschen Revue" (Stuttgart) und in der Zeitschrit "Bühne und Welt" (Berlin) mitgeteilt.

Durch die soeben erschienene vortreffliche Biographie, die der Neffe über seinen Oheim, den grossen Tondichter, veröffentlicht, fühle ich mich angeregt, aus dem mehrjährigen Verkehr mit Meister Volkmann Einiges hier festzuhalten.

Schon die erste Begegnung mit den beiden Meistern Liszt und Volkmann machte grundverschiedenen Eindruck.

Der Gedanke, Franz Liszt vorgestellt zu werden, mit ihm zu sprechen, ja ihm vorspielen zu sollen, hatte für uns Schüler etwas Beängstigendes, Aufregendes. Wir hatten gar keinen Begriff, wie wir gewöhnliche Menschenkinder mit diesem Musikfürsten würden verkehren können, und es schwebten uns bei dem Geanken an die erste Vorstellung alle möglichen abenteuerlichen Verlegenheiten vor. Wie angenehm wurden wir enttäuscht, als Liszt mit seiner weltmännischen Gewandtheit, seiner hinreissenden Liebenswürdigkeit uns begrüsste, uns zu freier, ja ungezwungener Rede aufmunterte und uns schliesslich entliess wie alte Bekannte, uns ein baldiges, beglückendes Wiedersehen verheissend. Jedes Wort, jedes Lächeln, ja die kleinsten freundlichen Complimente und Apercus, Alles versetzte uns in einen Rausch der Begeisterung.

Durchaus anders gestaltete sich die erste Bekanntschaft mi Robert Volkmann. Die meisten jungen Damen wussten sichtlich nicht viel von dem schweigsamen, zurückhaltenden alten Herrn, der im Prüfungszimmer etwas abseits stand und sein künftiges Schülermaterial mit ernstem Blick musterte. Der Director der Musik-Akademie, der berühmte ungarische Operncomponist Franz Erkel und der Professor der Musikgeschichte Cornel Abranyi mussten Volkman aus seiner Beobachterecke förmlich herauslootsen, damit er die üblichen Prüfungsfragen stelle.

"Können Sie vom Blatt spielen?" und

"Wissen Sie etwas von Intervallen?" wiederholte er bei jeder einzelnen Schülerin und legte ihnen verschiedene Musikstücke vor. Wenn das Blattlesen nicht ordentlich ging, schloss er die Augen, zog den buschigen Schnurrbart in die Höhe und blickte ironisch drein, als ob er sich heimlich sagte:

"Das habe ich mir gleich gedacht!"

Da ich ziemlich anständig a vista spielte, legte er mir noch eine Bach'sche Fuge aus dem "Wohltemperierten Clavier" vor und brummte ein leises: "Gut -- gut!" Wir wurden ohneweiters entlassen. Die Fräulein, die Volkmann als Componisten schwerlich kannten -- er schrieb zu wenig brillant -- machten spöttische Bemerkungen über den alten Brummbären. Ich war voll freudiger Erwartung und betrachtete es als Glück, bei dem verehrten Tondichter studieren zu dürfen.

Volkmann war zu jener Zeit sechzig Jahre alt, aber durch sein wortkarges, zurückhaltendes Wesen erschien er viel älter. Er hatte eine edle Gesichtsbildung, einen etwas grossen Kopf, eine gut gezeichnete, kräftige Nase, kluge graublaue Augen, die recht freundlich, aber auch scharf spöttisch blicken konnten. Der buschige weisse Schnurrbart dämpfte oft noch die leise, spärliche Rede. Seine wohlgebildete Hand erschien mir interessant wegen ihres eigenartigen und prägnanten physiognomischen Ausdruckes. In den Fingerbewegungen sprach sich sowohl scheue Zurückhaltung wie wählerische Empfindlichkeit deutlich aus. Volkmann hatte eine merkwürdige Art, den vierten und fünften Finger übereinanderzulegen, während Daumen und Zeigefinger wie vorsichtig pruefend über Papier oder Tischplatte strichen. Er sprach sehr wenig, aber was er sagte, war trotz der knappen Form immer scharf zutreffend, oft witzig und satirisch. Sein Wohlwollen empfand man, ohne dass er demselben Worte gab. Ein ruhiges Kopfnicken, ein leises Gebrumme, ein anerkennender Seitenblick aus den klugen Augen, oft auch ein flottes Scherzwort, das ihm so wunderlich von den Lippen sprang, als geschähe das wider seinen Willen - er war nicht immer leicht zu verstehen.

Ich bin kaum jemals wieder einem bedeutenden Manne begegnet, der wie Volkmann sich so hinter sich selbst verschanzt und im Verkehre mit den Menschen ein so ausgesprochen aristokratisch abgeschlossenes Wesen festgehalten haette.

Höchst wunderlich gestalteten sich demnach die Begegnungen der beiden Meister Liszt und Volkmann, die so himmelweit von einander verschieden waren. Liszt, der elegante, grosszügige Weltmann, war gegen den reservirten Volkmann, mit dem ihn auch nicht ein sympathischer Zug verknüpfte, übertrieben freundlich, aber es lag trotz der vollendet gespielten Comödie immer eine Art von gönnerhafter Herablassung in seinen Worten und Gesten. Volkmann aber, der für solch mondaine Duette ein schlechter Partner und aus seinem starken Selbstbewusstsein heraus doch keine Position neben Liszt zu behaupten bemüht war, machte angesichts der nichtssagenden Höflichkeiten, die gegenseitig gewechselt wurden, eine beinahe groteske Figur. Der bewegliche, überschlanke, elegante Liszt mit seiner Künstlermähne, die liebenswürdigen Phrasen hervorsprudelnd, sah wie ein Potentat aus, der einem kleinen, schüchternen Beamten überfreundlich und aufmunternd entgegenkommt. Das Allerkomischeste aber war, wenn Liszt Volkmann "den alten Junggeesellen" nannte, der er doch eigentlich selbst ebenfalls war.

"Haben Sie schon 'mal bei Volkmann Kaffee getrunken?" scherzte er, und maliziös fügte er hinzu: "Das kann er nämlich vortrefflich..."

Es schien ihn zu verdriessen, dass Volkmann auch noch etwas Anderes konnte als Kaffeekochen. Die geistige Art und Richtung der beiden Meister war ebenso verschieden wie ihr äusseres Gehaben. Liszt machte sich nicht viel aus Volkmann's Compositionen, sie lagen zu weit ab von seiner musikalischen Art und Weise; nur vor dem herrlichen B-moll-Trio, das ihm selbst gewidmet ist, machte er pflichtgemäss seine höfliche Verbeugung, aber auch mit dieser Tondichtung hatte er keine wahlverwandtschaftliche Fühlung. Volkmann, der Schweiger in sieben Sprachen, sprach sich niemals über Liszt aus, in all den Jahren hat er dessen Namen kaum jemals erwähnt. Es bestand zwischen den beiden hervorragenden Meistern stets eine reinliche Scheidung, und die Damen, denen die graue "Theorie" Volkmann's trocken und langweilig war, flüchteten beinahe alle in das goldene Gezweige der Virtuosität zu Liszt, der ihnen für ihre tastenstürmende, octavengewaltige Laufbahn wichtiger erschien, als die gründliche Kenntnis der Fuge und des einfachen und doppelten Contrapunktes.

Und doch war Volkmann als Lehrer hochbedeutend. Neben eiserner Gründlichkeit und einer erstaunlichen Fähigkeit, mit wenigen Worten die complicirtesten Formen klarzustellen - an einen wirklichen Vortrag wüsste ich mich kaum zu erinnern - regte er den Schüler doch stets zur Entfaltung freier Phantasie an. Als er uns zuerst die kleine Liedform erklärte, gab er uns als Texte die beiden Verzeilen:

Wenn die Veilchen blühen
Ist der Frühling da.

Die Aufgabe wurde zumeist unter der Mittelmässigkeit gelöst. Einem hübschen blonden Mädchen, das weder Mozart noch Schubert kannte, weil ihr musikalischer Gesichtskreis von lauter Liszt'schen Transcriptionen und Rhapsodien verbarricadiert war, sagte Volkmann ironisch:

"Ich will in Ihrem Lied die Quinten und Octaven und sonstigen Todsünden nicht anstreichen. Aber sagen Sie mir nur, wo ist das Lied, wo sind die Veilchen, wo ist der Frühling? Wozu sind Sie denn jung und studiren Musik?"

Das war eine der längsten Reden, die ich von Volkmann in der Theorieclasse gehört hatte. Nur einmal sah ich ihn in etwas erregter Stimmung. Er schrieb auf die Tafel die vier ersten Tacte aus dem letzten Satz der Mozart'schen Jupiter-Symphonie, die bekanntlich aus vier ganzen Noten: c, d, f, e, bestehen, um sie harmonisieren zu lassen.

"Wissen Sie, woher diese vier Tacte sind?" fragte er. Als ich antworten wollte, winkte er mir, zu schweigen. Niemand wusste es.

"Na, wissen Sie, wenn Sie schon alle möglichen Virtuosenstücke auf dem Clavier abtrommeln, so sollten Sie doch wenigstens die erste Symphonie von Mozart kennen. Das würde Ihnen wirklich nicht schaden."

Beim Moduliren sass er am Clavier- die Schülerinnen sollten die verschiedenen Accordverbindungen nennen - machte die überraschendste, witzigsten Trugschlüsse, und da sie auch hier stumm blieben, sagte er schliesslich ironisch: "Wozu die vielen falschen Accorde, nicht wahr?"

Als wir so weit waren, selbständige Musikstücke zu componiren, forderte er mich auf, ein Thema mit Variationen zu bearbeiten. Über letztere gab er mir interessante Lehren:

"Sehen Sie, ein Thema ist eigentlich wie die Seele eines Menschen. Je einfacher und reiner, desto edler und reicher kann sie sich entfalten. Ein tüchtiger Musiker schafft diese reiche Entfaltung, indem er dem Thema die verschiedenartigsten physiognomischen Veränderungen gibt, durch seine erfinderische Phantasie zu immer neuen Formen gestaltet, ohne die feste Beziehung der Variationen zum Thema jemals aus den Augen zu verlieren. Was eine Seele in verschiedenen Stimmungen, ist ein Thema mit Variationen."

Zwei junge Damen, die darüber stritten, wer bedeutender sei, Mozart oder Beethoven, wollten ihn zum Schiedsrichter dieser Streitfrage machen.

"Darauf kann ich keine Antwort geben," sagte er, "denn mein Herz gehört beiden zu gleichen Theilen, vielmehr jeder von ihnen besitzt es ganz. Schade, dass es Ihnen, meine Damen, nicht ebenso geht!"

Volkmann galt als Sonderling, als menschenfeindlich und weltfremd. Auch ich empfand etwas wie Scheu vor seinem zugeknöpften Wesen. Als ich jedoch nach einiger Zeit in dem feinen, kunstfreundlichen Hause des Finanzrathes Floch v. Reyhersberg durch ihn eingeführt wurde, lernte ich ihn als aufgeräumten, vortrefflichen Gesellschafter kennen, der einen guten Tisch, einen feinen Tropfen nicht verachtete und gerne in gemüthlicher Gesellschaft verkehrte. Lachend sagte er eines Abends bei Tisch:

"Wenn das Essen und Trinken gut ist und ein paar Menschen um Einen herumsitzen, die nicht lauter Dummheiten reden, so erscheint Einem das Leben wie eine ganz nette Composition."

Er selbst lebte äusserst bescheiden. Erst seitdem er den Lehrstuhl für Composition an der Landes-Musik-Akademie in Budapest einnahm, hatte er sich den Luxus einer "Bedienerin" gegönnt, die seinen kleinen Haushalt in Ordnung hielt. Bis dahin hatte der pedantisch ordnungsliebende Mann jeden Morgen im Arbeiterkittel seine Stube selbst ausgefegt. Die dürftigen Verhältnisse, in welchen er jahrelang gelebt hatte, hatten ihn gegen das Drückende, das sonst solche Kleinlichkeiten geistig hochstehenden Menschen auferlegen, [un]empfindlich gemacht. In seiner hochgelegenen Wohnung in der Ofener Festung horstete er und erfreute sich sowohl der Ruhe, der reinen Luft, als auch der herrlichen weiten Aussicht über die majestätische Donau auf das tiefer gelegene Pest.

Ich durfte ihn während und nach meinen akademischen Studien beinahe jede Woche besuchen, was eine besondere Auszeichnung war, denn der Meister war mit solcher Gunst äusserst sparsam. Selbst Graf Geza Zichy, der berühmte einarmige Clavier-Virtuoso und Operncomponist, hatte harte Kämpfe zu bestehen, ehe Volkmann sich entschloss, ihm Unterricht zu ertheilen.

Kam man über den schmalen Corridor an Volkmann's Wohnung, so erschien auf den schrillen Ton einer heiseren Glocke der alte Herr in Schlafrock, Filzpantoffeln und Hauskäppchen, öffnete behutsam die Doppelthür, liess den Besucher an sich vorüber herein und schloss sofort mit dem Schlüssel wieder ab. Von den beiden kleinen Zimmern, die er bewohnte, war das erste seine Bibliothek, seine Vorrathskammer und Garderobe, das zweite sein Schlaf-, Arbeits- und Empfangszimmer, in welchem es immer recht anheimelnd nach einer guten Cigarre und vorzüglichem Kaffee duftete, den sich der Meister mit grossem Stolze immer selbst bereitete.

Von Zeit zu Zeit brachte ich ihm kleine Arbeiten, die er mit freundlicher Aufmunterung prüfte und mit mir besprach. Wenn ich Anlage zur Eitelkeit gehabt hätte, so würden mich die oft lobenden Ausspruche des Meisters über meine bescheidenen Fahigkeiten stolz gemacht haben, aber schon damals hatte ich über die schöpferische Kraft der Damen, mich inbegriffen, besonders was musikalische Erfindung betrifft, eine sehr abfällige Meinung, und so hat selbst Volkmann's Aufmunterung glücklicherweise kein Unglück angerichtet - ich bin nicht unter die Componisten gegangen.

Bei einem fröhlichen Male im Hause Floch sagte Volkmann, als sich Johannes Brahms nach dessen Componistinnen spöttischer Weise erkundigte:

"Viele habe ich unterrichtet, aber nur Eine hat etwas gelernt, das ist diese nichtsnutzige Frau hier!"

"Warum nennen Sie sie denn nichtsnutzig, lieber Freund?" fragte Brahms.

"Weil sie nichts componiren willen!" polterte Volkmann und sah mich wild an. Brahms schlug mit der flachen Hand auf den Tisch und rief wohlgelaunt:

"Das ist ein Beweis, dass sie ein vernünftiges Frauenzimmer ist."

"Wozu studieren Sie denn nachher Compositionslehre?" brummte Volkmann verdriesslich.

"Für diese beiden Herrschaften," antwortete ich lachend, indem ich auf meine beiden Ohren wies, "damit sie diese beiden Herrschaften ordentlich verstehen lernen," und damit wies ich auf Brahms und auf Volkmann.

Brahms lachte laut und sagte:

"Trösten Sie sich, alter Freund! Wenn Sie auch keine grosse Componistin ausgebildet haben... lassen Sie sich daran genügen, dass Sie selbst ein recht anständiger Componist sind -- das ist schliesslich auch etwas!!"

Am selben Abend sollte Brahms zum erstenmale seine zweite Symphonie in D-dur im grossen Redoutensaale in Budapest dirigiren, wozu er Meister Volkmann und mich eingeladen hatte. Das Diner bei Flochs hatte lange gedauert, es war fünf Uhr geworden. Die beiden Meister waren vortrefflicher Laune, namentlich Brahms war förmlich ausgelassen.

"Nu gehen wir aber bis zum Concert spazieren," rief er heiter aus, "Sie lieber Volkmann und Sie kleine Frau, Ihr sollt mir als gute Patrioten die Honneurs machen und mir die schöne Stadt Budapest zeigen!"

Wir waren jedoch kaum wenige Schritte gegangen, als Meister Volkmann plötzlich erklärte, er müsse zu seinem Schneider gehen und dort einen neuen Abendanzug probiren.

"Nichts da! Es wird nichts probirt, es wird hiergeblieben, es wird mit uns spazieren gegangen," schrie Brahms überlaut, so dass die Spaziergänger der Waitznergasse, damals der elegante Corso in Budapest, sich erstaunt nach dem kleinen Herrn umsahen, der heftig gesticulirend auf den ruhigen alten Mann einsprach, der immerfort den Kopf schüttelte und dabei blieb, er werde von seinem Schneider Punkt halb sechs Uhr erwartet -- er müsse Wort halten...

"Aber, alter Freund," rief Brahms, "Sie werden doch auf Ihre alten Tage nicht plötzlich pünktlich werden wollen -- erinnern Sie sich gefälligst, dass Sie uns heute Mittags eine halbe Stunde haben warten lassen. Und ich lasse Sie nicht fort. Ich bin jetzt verantwortlich dafür, dass Sie Ihren Lebensprincipien nicht plötzlich untreu werden -- und eines Schneiders wegen!"

"Der Schneider ist aber ein famoser Contrabassist, der in allen philharmonischen Concerten mitspielt; wenn ich mich mit dem Manne verfeinde, rächt er sich demnächst, wenn meine D-moll-Symphonie aufgeführt wird und ist bei der grossen Bassfigur ebenfalls unpünktlich!"

"Der Hosenschneider ein Musikante?" riefd Brahms uebermüthig. "Mann Gottes! Warum sagen Sie das nicht gleich? Ja, solches Doppelgenie dürfen Sie nicht warten lassen. Flink! Flink! Wer weiss, wie viel Viertel und Achtel Sie bereits versäumt haben! Schneider sind rachgierige Menschen! Denken Sie an Ihre Hosen und an Ihre Symphonie! Adieu, adieu, und ich hoffe, den Bekleidungsmusiker heute Abends mit Nadel und Scheere -- nein! mit seinem Contrabass kennen zu lernen!" Und laut lachend schob Brahms den behäbigen Volkmann, den er nicht zu Worte kommen liess, vor sich her.


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