Der Wolf und der Schueler

Ein Wolf wurde einmal von einem Jaeger durch einen Pfeil angeschossen. Obgleich das Tier schon schwer verletzt war, gelang es ihm doch, zu fluechten, um sein Leben zu retten. Der Jaeger verfolgte das Wild auf seinem Pferd und bedraengte es sehr. Es begann eine tolle Jagd im Wald. Der Wolf lief und lief mit seiner letzten Kraft. Doch nach einer Weile wurde er muede vom Rennen und schwach wegen seiner Wunde. Da sah er ploetzlich einen Schueler entgegen kommen. Der Schueler fuehrte einen Esel. Dieser trug auf seinem Ruecken einen Bambuskasten mit vielen Buechern. Der Wolf warf sich vor dem Schueler auf die Knie und weinte:"Bitte helfen Sie mir! Ich bin schwer verletzt und der Jaeger auf dem Pferd ist hinter mir her. Mein Leben ist in Gefahr. Helfen sie mir! Ihre wohltat wird nie vergessen werden."

Der Schueler war ein barmherziger Mensch. Er oeffnete den Kasten, nahm einige Buecher heraus und setzte das Tier hinein. Dann machte er den Deckel zu und verschloss den Kasten.

Bald danach kam der Jaeger. Weil er die Spur des Wolfes ploetzlich verloren hatte, fragte er den Schueler:"Mein Herr, haben sie einen verletzten Wolf davonrennen gesehen? ich habe ihn verfolgt, aber jetzt ist er ploetzlich verschwunden." Der Schueler antwortete, dass er keinen wolf gesehen haette. Zweifellos war der jaeger mit der Antwort zufrieden, dann ritt er weiter, um den Wolf zu suchen.

Als der Jaeger laengst verschwunden war, oeffnete der Schueler den Kasten und liess das Tier hinaus. Der Schueler zog dann den Pfeil aus der wunde des armen Tieres und wickelte die wunde in ein Tuch. Nach einer Weile hatte der wolf sich etwas erholt. Er war nun sehr hungrig und vergass die grosse Wohltat, die der Schueler ihm erwiesen hatte. Er sagte:"Ich bin sehr hungrig. sie haben mir zwar das leben vor dem Jaeger gerettet, falls ich aber jetzt nichts zum Essen kriege, muss ich sterben. Es heisst: rettet man ein Leben, dann muss man auch dafuer sorgen, dass es erhalten bleibt. Hier gibt es nichts zum Essen. Daher muss ich Sie auffressen, um nicht zu verhungern. Schon zeigte der Wolf Zaehne und Klauen und wollte sich auf den Schueler stuerzen. dieser war sehr erschrocken und sagte wuetend:"Du undankbarer wolf. Ich habe dein leben gerettet und nun willst du mich fressen, nur um deinen Hunger zu stillen? Das ist doch gegen den gesunden menschenverstand. Es heisst auch: Um jemanden in einem Streit von der Wahrheit zu ueberzeugen, braucht man drei gute Zeugen. Erkundigen wir uns also bei drei erfahrenen Leuten. Wenn alle drei dir recht geben, dann habe ich nichts mehr zu sagen."

Der wolf stimmte zu. Nachdem sie eine Weile weiter gegangen waren und noch niemanden getroffen hatten, wurde der wolf ungeduldig. Da sah er einen alten Maulbeerbaum am Wege. Er meinte:"Erkundigen wir uns doch bei diesem alten Baum." Nun erzaehlte jeder dem Baum seine Geschichte und fragten um seine Meinung. Er antwortete:"Ich bin ein alter Maulbeerbaum. Seit mehr als zwanzig Jahren stehe ich schon hier. In meiner Juegen pflueckten die Leute jedes Jahr im Fruehling meine Blaetter fuer die Seidenzucht und erfreuten sich an meinen schoenen Blueten. Im heissen sommer machten sie oft Rast in meinem Schatten. Im Herbst bot ich ihnen meine suessen Fruechte an. Trotzdem brachen sie oft meine Zweige und Aeste und machten aus ihnen Brennholzbuendel. Jetzt bin ich alt und nicht mehr so nuetzlich wie frueher. Bald wird man mich faellen. Das ist auch das Schicksal aller Baeume. die Menschen sind undankbar. Daher kannst du, lieber Wolf, diesen Menschen fressen, um nicht zu verhungern."

Wieder zeigte der wolf seine Zaehne und Klauen und wollte sich auf den Schueler stuerzen. Der aber sagte:"Eile mit Weile. Wir haben erst einen Zeugen gehabt. Wir wollen noch zwei andere Zeugen fragen."

Sie gingen weiter bis sie einen alten Ochsen auf einer Wiese sahen. Der ungeduldige wolf meinte wieder:"wir koennen uns bei dem alten Ochsen Rat wegen unseres Streites holen." die beiden wieholten nun ihre Geschichte vor dem alten Ochsen und fragten ihn nach seiner Meinung. Der Ochse antwortete:"Ich bin ein alter Ochse. Als ich noch jung und stark war, spannte man mich vor den Pflug oder Lastwagen. So war ich vom fruehen Morgen bis zum spaeten Abend auf den Beinen. So konnte die Menschen durch mich ein gutes Leben haben. Dennoch schlugen sie mich oft mit der Peitsche wenn sie mit meiner Arbeit nicht zufrieden waren. Jetzt bin ich alt und kann nicht mehr gut fuer die Menschen arbeiten. Bald wird man den Metzger rufen und mich schlachten lassen. Mein Fleish wird gegessen werden, meine Haut wird man zu Leder verarbeiten. Die Menschen sind undankbar. So, also hast du, lieber Wolf das Recht, diesen menschen zu fressen."

Noch einmal zeigte der Wolf seine Zaehne und Klauen und noch einmal wollte er sich auf den Schueler stuerzen. Der Schueler aber sagte:"Warte nur, bis wir auch den dritten Zeugen befragt haben. Sie gingen weiter, den Weg entlang. Diesmal trafen sie einen Greis unterwegs. Der Schueler war froh, endlich einen Menschen als Zeugen gefunden zu haben und sagte:"Lass uns den Greis fragen." Noch einmal erzaehlte jeder ausfuehrlich seine Geschichte und fragten den Greis nach seiner Meinung. Der Greis war ein kluger und schlauer Mann. Er sagte:"Bevor ich ueber diesen Streit entscheide, muss ich die ganze Sache genau verstehen. Koennt ihr diese Szene vor meinen Augen wiederholen, damit ich ueber die Ereignisse wohl unterrichtet bin?" So wurden diese Szenen noch einmal vor dem Greis gespielt. Zuerst kam der Wolf weinend und bat den Schueler um Hilfe, um sein Leben zu retten. Der Schueler oeffnete den Bambuskasten, setzte den Wolf hinein und verschloss ihn. "Halt, halt!" rief der Greis in diesem Augenblick. "Oeffnen Sie ja nicht den Kasten! Der boese Wolf ist ein undankbares Tier. Im Kasten werden Sie ihn leicht toeten koennen." "Aber...aber..." sagteder Schueler zoegernd. Er wollte nicht das Leben, dass er kaum gerettet hatte, wieder vernichten. Der Greis aber tadelte ihn:"wollen Sie lieber von dem boesen Wolf gefressen werden, statt ihn zu toeten?" Da erkannte der Schueler, dass der Greis recht hatte. Da zog er sein Schwert und stach solange durch die Staebe des Bambuskastens bis der Wolf tot war. So hatte der undankbare Wolf nun endgueltig sein Leben verloren.