An Balthasar Elischer.

Wien, den 12. Mai 1855


Lieber Freund!

Es ist von ausserordentlicher Wichtigkeit, dass ich Ihnen in diesen Zeilen Enthüllungen von der grössten Tragweite mache und mit denselben den Schlüssel zu einem bisher ungelösten Rätsel in die Hand liefere. Gestehe ich's nur gleich offen: Sie haben mich bisher ganz falsch beurteilt und demgemäss behandelt, was hinfüro hoffentlich nicht mehr der Fall sein wird, wenn Sie sich die folgende Darlegung der wahren Sachlage zu Herzen nehmen. Die Blindheit, mit der Sie in der betreffenden Sache geschlagen waren, kann man Ihnen indessen verzeihen, tappte ich doch selbst jahrelang über meine eigentliche Bestimmung im Dunkeln. So glaubte ich eine Zeitlang, ich sei zum Regieren geboren, ein andermal, ich sei zum Militär berufen, in verschiedenen anderen Perioden wähnte ich zum Musiker, Astronomen, Bummler, Kapitalisten, Schachspieler, Tablabire, Ballettänzer, Redner, Kaffeesieder, Geheimrat, Stellwageninhaber, Theaterdirektor, Redakteur, Erzbischof, Weltverbesserer geboren zu sein. Alle diese Voraussetzungen waren falsch oder doch nur zum Teil wahr, wie mir an einem schönen Apriltage ganz klar wurde, wo sich mit einem Male die Schuppen von meinen Augen lösten, nachdem ich viele Tage und Nächte lang über meine eigentliche und wirkliche Bestimmung gegrübelt hatte. Ich hatte es, wie gesagt, urplötzlich, und damit empfand ich zugleich das beglückende Bewusstsein, dass ich das verhältnismässig schon vollkommen sei, wozu mir die erhabene Bestimmung wurde. Sie erraten's doch nicht; wohlan denn, so will ich's Ihnen verraten. Verurteilen Sie mich nicht ungeprüft, freuen Sie sich vielmehr mit mit, dass es mir endlich gelang, mit mir ins klare zu kommen, was jeder Mensch erstreben soll, um seinen Platz hienieden vollkommen auszufüllen. Nach dieser ebenso notwendigen als wichtigen, wenn auch nicht völlig erschöpfenden Einleitung ist es mir endlich vergönnt und halte ich wegen der erregten Spannung sogar für verpflichtet, zur eigentlichen Sache überzugehen, vorausgesetzt, dass Sie mir die Ehre geben wollen, mich anzuhören. Ich schreite also zur Hauptsache, zum Thema, wenn Ihnen dieser Ausdruck lieber ist, weil er Ihnen vielleicht klarer und treffender scheinen könnte, obwohl mir vorkommt, dass man die Beantwortung einer Prinzipienfrage doch eigentlich eine Prinzipienantwort nennen müsste. Streiten wir indessen nicht um Worte, die am Ende (nach Hamlet) doch nur "Worte" sind, sondern gehen wir ohne allen Umschweif zur Hauptsache, zum Thema, zur Prinzipienantwort über. Ich stelle die Frage möglichst also: Wenn ich zum Regieren, zum Militär, zum Musiker, Kapitalisten, Tablabiro (siehe das Weitere oben) nicht geboren bin, wozu bin ich nun eigentlich geboren oder vom Weltgeist bestimmt? Ich will Ihnen alles Brüten und Sinnen nach der richtigen Antwort ersparen und offenbare sie Ihnen ohne jede Weitläufigkeit. Nun denn: ich bin zum Geniessen geboren! Sie werden sagen: was heisst mir das! Allerdings ist der Ausdruck etwas vag und von relativer Bedeutung; ich wähle daher, um besser verstanden zu werden, eine Form, meinen Ausdruck zu verdeutlichen und zu definieren, die schon oft von Männern der Wissenschaft mit Glück angewendet wurde, indem ich statt einer abstrakten philosophischen Definition an einer Anzahl konkreter Fälle Ihnen eine möglichst deutliche Vorstellung davon zu geben versuche, was ich unter geniessen verstehe. Aus dieser Bilderreihe werden Sie sich dann ziemlich getreu mein Bild, d.i. mein Sein und Wesen, meine Bestimmung, abstrahieren und konstruieren können. Vernehmen Sie also:

Geniessen ist: Kreuzerzigarren zu rauchen, wenn man nicht echte Havanna haben kann; geniessen ist: ausgelacht zu werden, dass man so dumm war, in die Lotterie zu setzen, auf einmal macht man aber den Haupttreffer; geniessen ist: gegen den Willen des Doktors gesund zu werden; geniessen ist: mit 100 000 Gulden gestraft zu werden, weil das voraussetzt, dass man wenigstens noch einmal soviel besitzt; geniessen ist: für besser gehalten zu werden als man ist; geniessen ist: in schöner Musik schwelgen; geniessen ist: einen durchtriebenen Advokaten prellen; geniessen ist, wenn man vieles nicht geniessen muss; geniessen ist, zu rechter Zeit zu sterben, wenn man z.B. gerade gehangen werden sollte; geniessen ist, lustig sein zu können, wenn man lauter Trübsal erfährt; geniessen ist: eine Frau heiraten, die nicht kochen kann, weil die nie ein Gericht verderben wird; geniessen ist, unschuldigerweise gestraft zu werden, weil man zu keiner Zeit höhere Begriffe von seiner Tugend hat als in solcher; geniessen ist: fade Witzeleien nicht hören (oder gar lesen!) zu müssen; geniessen ist, wenn ich Herrn von Elischer wälischen Salat anmachen sehe, statt dessen aber dann einen gelungenen Apfelstrudel zu essen bekomme; geniessen ist: Bernsteindrechsler zu sein, wenn man nebenbei König von Preussen ist; geniessen ist, wenn man bei einem geistreichen Tee bloss den Tee zu geniessen braucht; geniessen ist, an die schöne Zeit zuruückzudenken, wo man noch Gassenjunge war; geniessen ist: just niesen zu können, wenn man über eine hochgestellte Albernheit das Lachen verbergen möchte; geniessen ist, wenn mich jemand einen schlechten Whistspieler nennt, dem ich doch alles Geld abgewinne; geniessen ist: im wunderschönen Monat Mai sich dem Naturgenuss ergeben; geniessen ist: alte vertrocknete Wurstschalen essen, wenn man schon sechs Tage lang nichts zu essen bekam; geniessen ist: nur dann arbeiten, wenn einen der Geist dazu treibt; Hochgenuss ist die göttliche Faulheit; Höchstgenuss: bewährte, liebe, treue und ganz aufrichtige Freunde zu besitzen! Ein besonderer Genuss ist noch, entfernte treue Freunde zu grüssen, was hiermit geschieht von

Ihrem

        stets gleichen

                            Robert Volkmann
 
 

Letzte Seite

(gehört nur allein für Ihre Person)

Lieber Freund, ich komme schliesslich noch mit einer Bitte. Am 19. Mair läuft nämlich wieder mein Pass ab. Da ich nun als nach Pest zuständig betrachtet werde, da Sie mir selbst das betreffende Zeugnis dazu ausgewirkt haben, kann ich auch nur wieder von Pest einen Pass erlangen. Da Sie nun mit Polizeisachen, die mir noch extra sehr unangenehme Dinge sind, viel besser umzugehen wissen als ich, ich auch gerade jetzt aus mehreren wichtigen Gründen eine Reise deshalb nach Pest nicht gern unternehmen möchte, hätte ich die grosse Bitte, mir die Freundschaft zu erweisen, wie vorm Jahre wieder meinen Pass verlängern zu lassen. Haben Sie die Güte, mir zu schreiben, ob Sie mir diese Gefälligkeit erweisen wollen; dann schicke ich Ihnen den abgelaufenen Pass zum Umtauschen mit einem neuen. Das auf dem alten angegebene Motiv "hält sich in Wien auf zur Ausbildung in seiner Kunst" könnte noch für nächstes Jahr gelten; es wäre möglich, dass ich übers Jahr nach Norddeutschland übersiedelte. Also ich bitte und flehe dringend, mir in dieser Sache Ihre Hilfe angedeihen zu lassen.

Hat Ihre liebe Frau meinen Brief bekommen? Grüssen Sie sie von mir aufs herzlichste und bringen Sie sie doch recht bald mit sich nach Wien. Ihre werten Schwiegereltern und die andern Freunde grüssen Sie auch schön von dem ihrer oft gedenkenden

Robert Volkmann


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