EINFUHRUNG
Amazonien beginnt in Santa Maria de Belem, 120 Kilometer von der Küste des Atlantischen Ozeans
entfernt. Irr Jahre r6i6, als 200 von Franzisco Castello Branco angeführte Portugiesen im Namen Seiner
Majestät des König5 von Portugal und Spanien diesen Boden betraten, beschrieb ihr Chronist den Ort als ein
Stück Land voller riesiger Bäume, freundlich und einladend. Heute ist Belem eine moderne Stadt mit 633000
Einwohnern, Wolkenkratzern und Verkehrsstauungen - der Ausgangspunkt der weißen Zivilisation für die
Eroberung der amazonischen Urwälder. Über 400 Jahre hat die Stadt aber auch die Spuren ihrer heroischen und
mystischen Vergangenheit bewahrt. Halb verfallene Paläste im Kolonialstil, kachelverkleidete Häuser mit
riesigen Eisenportalen zeugen von der berüchtigten Gummizeit, als die Entdeckung des Vulkani-
sierungsprozesses Belem auf das Niveau europäischer Metropolen emporhob. Aus dieser Zeit stammt auch die
zweistöckige Markthalle am Hafen, wo es einfach alles zu kaufen gibt: Fische vom Amazonas und aus dem
Ozean, duftende tropische Früchte, Heilkräuter, Wurzeln, Knollen und Blumen, Krokodilzähne für die Liebe
und Rosenkränze aus gebranntem Ton.
Santa Maria de Belem ist eine Stadt der Gegensätze. Im Zentrum breite lärmende Geschäftsstraßen, kaum
zwei Schiffsstunden flußaufwärts, am gegenüberliegenden Ufer des Amazonas, die Dschungelwelt der Insel
Marajo. Auf ihr lebte eines der großen Kulturvölker, die Amazonien zu
erobern versuchten. Nach der herkömmlichen Geschichtsschreibung erreichten die Marajoaras die Insel um 1100
n. Chr., auf dem Höhepunkt ihrer Zivilisation. Bei der Ankunft der europäischen Entdecker war das Volk schon
wieder untergegangen. Das einzige Zeugnis, das es zurückließ, ist seine herrliche Keramik, stilisierte Figuren
mit deutlichen Ausdrücken des Schmerzes, der Freude, des Traums. Sie scheinen eine Geschichte erzählen zu
wollen. Aber welche?
Bis zur Insel Maraj6 ist der Amazonas ein verwirrendes Labyrinth von Kanälen, Seitenflüssen und Lagunen.
Der ganze Fluß hat eine Entfernung von mehr als sechstausend Kilometern zurückgelegt. Er beginnt in Peru,
stürzt sich über kolumbianische Stromschnellen und wechselt das Land und den Namen. Vom Apurimac zum
Ucayali und Maranon; vom Maranon zum Solimöes, schon in Brasilien, fließt er durch eine weite Tiefebene: 2,6
Zentimeter Gefälle auf jeden Kilometer. Vor der Insel Marajo ist der Amazonas der wasserreichste Strom der
Welt.
Von Belem nach Santarem, der nächsten größeren Siedlung, sind es drei Tage mit einem großen Motorboot,
dem einzigen Beförderungsmittel in Amazonien. Vielleicht ist es unmöglich, den großen Strom zu verstehen,
ohne auf diesen Booten gelebt zu haben. In verschiedenen Größen und Formen verkörpern sie die amazonische
Konzeption von Zeit, Leben und Entfernung. 150 Kilometer pro Tag und nicht pro Stunde flußabwärts. Es ist
eine Zeit, in der man auf diesen Booten ißt, trinkt, träumt und liebt.
Santarem liegt auf der rechten Seite des Amazonas an der Mündung des Tapajos. Seine 350000 Einwohner
erleben Tage der Hoffnung. Die Stadt ist Endpunkt der Transamazonica, das Ziel der Goldsucher, Schmuggler
und Abenteurer. Hier lebte auch eine der ältesten Zivilisationen Amazoniens, das Volk der Tapajos. Es ist
wahrscheinlich der größte Stamm der Urwaldindianer gewesen. Der zeitgenossische Geschichtsschreiber
Heriarte behauptete, hätte bis zu 50000 Pfeilschützen aufstellen können.
Selbst wenn diese Schätzung übertrieben ist, waren die Tapa zahlreich genug,
um achtzig Jahre lang die Sklavenmärkte der Portugiesen zu versorgen.
Heute sind von dem ehem stolzen Stamm nur noch archäologische Überreste geblieben. Und der Fluß,
dem sie den Namen gaben.
Von Santarem nach Manaus ziehen Flüsse vorbei, Städte und Legenden der Welt Amazoniens. An
der Mündung des Nhamunda behauptete der spanische Abenteurer Francisco Orellana, die legendären
Amazonen bekämpft zu haben. An seinem rechten Ufer in der Nähe der Siedlung Faro liegt der Iacy-See,
der Spiegel des Mondes. Bei Volimor so jedenfalls berichtet die Legende, stiegen die Amazonen aus den
umliegenden Bergen zum See hinab, wo sie von ihren Geliebten erwartet wurden. Sie tauchten im
»Spiegel des Mondes« nach seltsamen Steinen, die sich im Wasser kneten ließen wie Brot, an Land aber
hart waren wie Diamanten. Die Amazonen nannten sie Muiraquita und beschenkten damit ihre
Geliebten. Die Wissenschaftler bezeichnen die Steine als archäologische Wunder. Sie sind hart wie
Diamanten und künstlich geformt, obwohl die Tapajos nachweislich keinerlei Werkzeug besaßen, um
solches Material zu bearbeiten.
Der eigentliche Rio Amazonas beginnt, wenn der Rio Solimöes den schwarzen Wassern des Rio
Negro begegnet und sich die beiden mächtigen Ströme miteinander verbinden. Zwanzig Bootsminuten
entfernt liegt Manaus, umgeben von einer grünen Welt und ohne Straßenverbindung zur Küste. Hier
lernte ich Tatunca Nara kennen.
Es war am 3. März 1971. Der Offizier M., Kommandant der brasilianischen Dschungeltruppe in
Manaus, hatte mir das Treffen vermittelt. In der Bar Gracias a Deus - Gott sei Dank -
stand ich zum ersten Mal dem weißen Indianerhäuptling gegenüber.
Er war groß gewachsen, hatte dunkles, langes Haar und ein fein gezeichnetes Gesicht.
Seine braunen Augen spiegelten den Mestizen,
zusammengekniffen und voller Mißtrauen. Tatunca Nara trug einen verwaschenen Tropenanzug, ein Geschenk
der Offiziere, wie er mir später erklärte. Auffallend war nur der breite Ledergürtel mit einer Schnalle aus Silber.
Die ersten Minuten unserer Unterhaltung waren mühsam. Eher widerwillig beschrieb Tatunca Nara in gebro-
chenem Deutsch seine Eindrücke von der Stadt der Weißen mit den unzähligen Menschen, dem Hasten und
Rennen auf den Straßen, den hohen Häusern und dem unerträglichen Lärm. Erst als er seine Verschlossenheit
überwunden und sein anfängliches Mißtrauen unterdrückt hatte, erzählte er mir die außergewöhnlichste
Geschichte, die ich jemals gehört habe. Tatunca Nara berichtete von dem Stamm der Ugha Mongulala, einem
vor 15000 Jahren von Göttern ausgewählten Volk. Er schilderte zwei die Erde verwüstende große Katastrophen,
die Beherrschung des südamerikanischen Kontinents durch einen Göttersohn, den er Lhasa nannte, und dessen
Verbindung zu den Ägyptern, die Entstehung des Stammes der Inkas, die Ankunft der Goten und ein Bündnis
mit zweitausend deutschen Soldaten. Er sprach von riesigen Steinstädten und von unterirdischen Wohnstätten
der göttlichen Vorfahren. Und er sagte, daß alle diese Ereignisse in einer Chronik niedergeschrieben seien - der
Chronik von Akakor.
Der längste Teil seiner Geschichte handelte von den Kämpfen gegen die Weißen, gegen
Spanier und Portugiesen, gegen Gummisucher, Siedler, Abenteurer und peruanische
Soldaten. Sie trieben die Ugha Mongulala, als dessen Fürst er sich ausgab, immer weiter in
die Berge der Anden zurück und veranlaßten sie sogar, sich in den unterirdischen
Wohnstätten zu verstecken. Der drohende Un gang seines Volkes war auch der Grund,
weshalb er zu Weißen gekommen war: Er wollte seine ärgsten Feinde Hilfe bitten. Schon vor
mir hatte Tatunca Nara vielen hen brasilianischen Beamten des Indianerschutzdien, seine
Geschichte offenbart. Aber ohne Erfolg.
Das war jedenfalls seine Geschichte. Sollte ich sie glauben oder sie verwerfen? In der schwülen Hitze der.
»Gott sei Dank« tat sich vor mir eine fremde Welt auf, e Welt, die, wenn es sie gab, auch die Legenden der Ma
und Inkas zur Wirklichkeit werden ließ.
Zum zweiten und dritten Mal traf ich Tatunca Nar~ meinem klimatisierten Hotelzimmer. Wieder beschne:
über Stunden in einem endlosen Monolog, nur unterb. chen vom Wechseln des Tonbandes, die Geschichte Ugha
Mongulala, der Verbündeten Auserwählten Stäm vom Jahre Null bis zum Jahre 11453, also von io~ v.Chr. bis
zum Jahr 1972 in der Zeitrechnung der wei£i Zivilisation. Aber meine erste Begeisterung war verflog Die
Geschichte schien mir zu außergewöhnlich: noch e Legende aus dem Urwald, entstanden in der tropisc~ Hitze
und unter dem mystischen Einfluß undurchdrin~ cher Wälder. Dann war Tatunca Nara am Ende seines 1 richts.
Und ich hatte zwölf bespielte Tonbänder mit ein~ phantastischen Märchen.
Spuren der Realität nahm die Erzählung Tatunca Nai erst an, als ich erneut mit dem mir befreundeten Offiz.
M. zusammentraf. Er gehörte der »Zweiten Abteilung< war also Mitglied des Geheimdienstes. M. kannte Tatu~
Nara seit vier Jahren und bestätigte mir zumindest d Ende seiner abenteuerlichen Geschichte. Er hatte zw<
brasilianischen Offizieren bei einem Flugzeugabsturz der Provinz Acre das Leben gerettet und sie in die Zivilis
tion zuruckgebracht. Unter den Indianers tämmen der Ya
minaüa und der Kaxinawa wurde Tatunca Nara wie ein Häuptung verehrt, obwohl er nicht zu ihnen gehörte.
Das waren Tatsachen, dokumentiert in den Archiven des brasilianischen Geheimdienstes. Ich entschloß mich,
Tatunca Naras Geschichte zu überprüfen.
Meine Nachforschungen in Rio de Janeiro, Brasilia, Manaus und Rio Branco ergaben erstaunliche
Ergebnisse. In den Archiven der weißen Zivilisation ist die Geschichte Tatunca Naras seit 1968 dokumentiert. In
diesem Jahr taucht zum ersten Mal die Gestalt eines weißhäutigen Indianerhäuptlings auf, der zwölf im
Bundesstaat Acre verunglückten brasilianischen Offizieren das Leben rettet. Er befreit sie aus der
Gefangenschaft der Haischa-Indianer und begleitet sie nach Manaus. Auf Fürsprache der Offiziere erhält
Tatunca Nara ein brasilianisches Arbeitsbuch mit der Nummer I 918 8oo und einen brasilianischen Per-
sonalausweis mit der Nummer V-4333. Nach Zeugenaussagen spricht der geheimnisvolle Indianerhäuptling
gebrochen Deutsch, versteht nur wenige Worte Portugiesisch, beherrscht jedoch mehrere Indianersprachen aus
den Gebieten am Oberlauf des Amazonas. Wenige Wochen nach seiner Ankunft verschwindet Tatunca Nara
plötzlich aus Manaus, ohne Spuren zu hinterlassen.
Im Jahre 1969 kommt es in der peruanischen Grenzprovinz Madre de Dios zu schweren Kämpfen zwischen
wilden Indianerstämmen und weißen Siedlern. Madre de Dios ist ein gottverlassenes Elendsgebiet am Osthang
der Anden. Die alte Geschichte Amazoniens wiederholt sich:
Aufstand der Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Sieg der ewig siegreichen Weißen. Der Anführer der
Indianer, ein imaginärer kommunistischer Guerillaführer, der nach peruanischen Zeitungsberichten unter dem
Namen Tatunca - Große Wasserschlange - bekannt ist, flieht nach der Niederlage auf brasilianisches Gebiet. Um
eine Fortsetzung der Überfälle zu verhindern, stellt die peruanische Regierung einen Auslieferungsantrag an Brasilien.
Aus unerfindlichen Gründen lehnen d je brasilianischen Behörden eine Mitarbeit ab.
In den Jahren 1970 und 1971 gehen die Kämpfe in der Grenzprovinz Madre de Dios zu Ende. Die wilden
Indianerstämme fliehen in die schwer zugänglichen Wälder im Quellgebiet des Rio Yaku. Tatunca Nara bleibt
spurlos verschwunden. Peru sperrt die Grenze nach Brasilien und beginnt mit der systematischen Erschließung
des Urwaldes. Nach Augenzeugenberichten erfahren die peruanischen Indianer das gleiche Schicksal wie ihre
brasilianischen Brüder. Sie werden ermordet oder sterben an den Krankheiten der weißen Zivilisation.
1972 ist das Schicksalsjahr von Tatunca Nara. Er kehrt in die weiße Zivilisation zurück und knüpft in der
brasilianischen Stadt Rio Branco Beziehungen zum katholischen Bischof Grotti. Gemeinsam betteln sie in den
Kirchen der Hauptstadt von Acre um Lebensmittel für die Indianer am Rio Yaku. Da bis zu diesem Zeitpunkt
die Provinz Acre als »indianerfrei« gilt, erhält auch der Bischof von staatlicher Seite keine Unterstützung. Drei
Monate später verunglückt Monsignore Grotti bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz tödlich.
Aber Tatunca Nara gibt nicht auf. Mit Hilfe der zwölf Offiziere, denen er das Leben gerettet hat, nimmt er
Kontakt mit dem brasilianischen Geheimdienst auf und versucht, ihn von seiner wahren Identität zu überzeugen.
Zur gleichen Zeit wendet er sich an den Indianerschutzdienst FUNAI und berichtet dem Botschaftssekretär N.
der Bundesrepublik Deutschland in Brasilia von 2000 deutschen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs
in Brasilien gelandet seien und bis heute in Akakor, der Hauptstadt seines Volkes, lebten. N. lehnt die
Geschichte als unglaub
würdig ab und verbietet Tatunca Nara den Zutritt zum Botschaftsgebäude. Erst als im Sommer des Jahres 1972
zahlreiche Angaben Tatunca Naras über unbekannte Indianerstämme in Amazonien bestätigt werden, erklärt
sich die FUNAI zur Mitarbeit bereit.
Sie beschließt eine Expedition zur Kontaktaufnahme des geheimnisvollen Volkes der Ugha Mongulala und
beauftragt Tatunca Nara mit der Vorbereitung. Das Vorhaben scheitert jedoch am Widerstand der lokalen
Behörden der Provinz Acre. Auf direkte Anordnung des damaligen Gouverneurs Wanderlei Dantas wird
Tatunca Nara verhaftet. Kurz vor seiner Auslieferung an peruanische Grenzsoldaten befreien ihn die
befreundeten Offiziere aus dem Gefängnis von Rio Branco und bringen ihn zurück nach Manaus.
Hier traf ich Tatunca Nara wieder.
Die erneute Begegnung mit dem Häuptung der Auserwählten Stämme verlief anders. Ich hatte mich
eingehend mit seiner Geschichte beschäftigt und die Tonbandaufzeichnungen mit Archivmaterial und Berichten
zeitgenössischer Geschichtsschreiber konfrontiert. Manches war erklärbar. Vieles erschien mir auch zu diesem
Zeitpunkt noch völlig unglaubwürdig, wie zum Beispiel die unterirdischen Wohnstätten oder die Landung von
2000 deutschen Soldaten in Brasilien. Aber ganz erfunden konnte die Geschichte nicht sein. Dagegen sprachen
die Angaben des Offiziers M. und Tatunca Nara selbst ein weißer Indianer, der Deutsch sprechen konnte.
Im Verlauf dieser Begegnung wiederholte Tatunca Nara seine Geschichte noch einmal, zeitlich geordnet und
in allen Einzelheiten. Um mich zu überzeugen, zeichnete er auf eine Landkarte die ungefähre Lage von Akakor
ein, beschrieb den Weg der deutschen Soldaten von Marseille bis
R;o Purus und nannte einige Namen ihrer Anführer.
Er zeichnete verschiedene Schriftsymbole der Götter auf, in denen auch die Chronik von Akakor abgefaßt sei.
Immer wieder kam er auf jene geheimnisvollen Altväter zurück, die so unauslöschlich in der Erinnerung seines
Volkes eingeprägt waren.
Mein zweiter Aufenthalt in Manaus verging wie im Flug. Ich begann an eine Geschichte zu glauben, deren
Ungeheuerlichkeit mir wie eine Herausforderung vorkam. Als mir Tatunca Nara anbot, ihn nach Akakor zu
begleiten, nahm ich seinen Vorschlag an.
Tatunca Nara, der brasilianische Fotograf J. und ich verließen Manaus am 25September des Jahres 1972.
Unser Plan: Fahrt auf einem gemieteten Flußboot bis zum Ober-lauf des Rio Purus, Umstieg auf ein
mitgeführtes Kanu mit Außenbordmotor und Vorstoß in das Quellgebiet des Rio Yaku an der Grenze zwischen
Brasilien und Peru, dann zu Fuß weiter durch das Vorgebirge der Anden bis nach Akakor. Dauer der
Expedition: sechs Wochen; wahrscheinliche Rückkehr: Anfang November.
Unsere Ausrüstung besteht aus Hängematten, Moskitonetzen, Geschirr, Proviant, der üblichen
Buschkleidung und Verbandszeug. Bewaffnet sind wir mit einer Winchester 44, zwei Revolvern, einem
Jagdgewehr und großen Haumessern. Dazu kommen noch die Filmausrüstung, zwei Tonbandgeräte und
Fotoapparate.
Die ersten Tage verlaufen ganz anders als erwartet. Keine Moskitos, keine Wasserschlangen, keine Piranhas.
Der Rio Negro ist wie ein See ohne Ufer. Der Urwald zeichnet sich gerade am Horizont ab, seine Geheimnisse
smd verborgen hinter einer Wand aus Grün.
Unsere erste Stadt ist Sena Madureira, die letzte größere Ansiedlung vor den noch unerforschten
Grenzgebieten zwischen Brasilien und Peru. Sie ist typisch für ganz Amazonien: schmutzige Lehmstraßen,
baufällige Hütten, der
stechende Geruch von verfaulendem Wasser. Von zehn Bewohnern leiden acht an Beriben, Aussatz oder
Malaria. Die chronische Unterernährung drückt den Menschen eine dumpfe Resignation auf. Umgeben von der
Brutalität der Wildnis und isoliert von der Zivilisation, ist der Zuckerrohrschnaps das wichtigste
Nahrungsmittel, der einzige Fluchtweg aus einer trostlosen Realität. In dem schäbigen Lebensmittelgeschäft
ergänzen wir unseren Proviant. In einer Stehbar feiern wir Abschied von der Zivilisation, Hier treffen wir auf
einen Mann, der vorgibt, den Obenauf des Rio Purus zu kennen. Als Goldsucher geriet er in Gefangenschaft der
Haischa- Indianer, eines halbzivilisierten Stammes im Quellgebiet des Rio Yaku. Sein Bericht ist entmutigend
und handelt von kannibalischen Ritualen und vergifteten Pfeilen.
Am 5. Oktober steigen wir an der Cachoeira Inglesa auf das mitgeführte Kanu um. Das Flußboot kehrt nach
Manaus zurück. Von jetzt an sind wir von Tatunca Nara abhängig. Der Verlauf des Rio Yaku ist auf den
Militärlandkarten nur ungenau eingezeichnet. Die in diesem Bereich lebenden Indianerstämme haben noch
keinen Kontakt mit der weißen Zivilisation. J. ist unsicher. Auch ich habe ein ungutes Gefühl: Gibt es die Stadt
Akakor überhaupt? Können wir Tatunca Nara vertrauen? Das Abenteuer ist stärker als unsere aufkommende
Angst.
Zwölf Tage nach unserem Aufbruch in Manaus beginnt sich die Flußlandschaft zu ändern. War der Fluß
vorher wie ein erdbraunes Meer ohne Ufer, so gleitet das von Tatunca Nara gesteuerte Kanu jetzt zwischen
Schlingpflanzen und überhängenden Bäumen hindurch. Nach einer Flußbiegung stoßen wir auf eine Gruppe von
Goldsuchern. Die Männer haben am Fluß eine primitive Waschanlage gebaut und sieben den grobkörnigen
Sand. Sie kommen uns freundlich entgegen und laden uns zum Übernachten ein.
Am Abend erzählen sie von rothaarigen, blaurot bemalter Indianern mit Giftpfeilen .
Die Fahrt wird zu einer Expedition gegen die eigener Zweifel. Wir befinden uns kaum zehn Tage von dem
vermeintlichen Ziel entfernt. Das eintönige Essen, die körperliche Anstrengung, die Angst vor dem
Unbekannten haben uns völlig zermürbt. Unser Kanu ist ständig von einer Wolke von Moskitos umgeben. Was
uns in Manaus wie ein phantastisches Abenteuer erschien, wird jetzt zu einem er-drückenden Alptraum. Im
Grunde wollen wir umkehren und Akakor vergessen, bevor es zu spät ist.
Bisher haben wir noch keine Indianer gesehen. Am Horizont türmen sich die ersten Schneeberge der Anden
auf. Hinter uns liegt das grüne Meer des Amazonastieflands. Tatunca Nara bereitet sich auf die Rückkehr zu
seinem Volk vor. In einer seltsamen Zeremonie bemalt er seinen Körper; das Gesicht mit roten Streifen, die
Brust und die Beine mit einem dunklen Gelb. Sein loses Haar bindet er mit einem Lederband über der Stirn
zusammen. Es ist mit eigenartigen Symbolen versehen, den Zeichen der Ugha Mongulala, wie Tatunca Nara
sagt.
Am 13. Oktober müssen wir umkehren. Nach einer gefährlichen Fahrt durch mehrere Stromschnellen gerät
das Boot in einen Wirbel und kippt um. Die in Isoporschachteln verpackte Kameraausrüstung treibt unter das
dichte Ufergestrüpp. Auch die Hälfte des Proviants und die Medikamente gehen verloren. In dieser ausweglosen
Situation entschließen wir uns, die Expedition aufzugeben und nach Manaus zurückzukehren. Tatunca Nara
reagiert gereizt. Er ist erbittert und enttäuscht.
Am nächsten Morgen brechen J. und ich das letzte gemeinsame Lager ab. Tatunca Nara, in der
Kriegsbemalung seines Volkes und nur mit einem Lendenschurz bekleidet, kehrt auf dem Landweg zu seinem
Volk zurück.
,7
Es war mein letzter Kontakt mit dem Häuptling der Ugha Mongulala. Nach meiner Rückkehr nach Rio de
Janeiro im Oktober des Jahres 1972 versuchte ich, den weißen, deutsch sprechenden Indianerhäuptung Tatunca
Nara, Akakor und die Götter zu vergessen. Erst im Sommer 1973 kam die Erinnerung zurück: Brasilien hatte
mit der systematischen Erschließung Amazoniens begonnen. 12000 Arbeiter schlugen zwei Fernstraßen durch den
unerschlossenen Urwald, schnurgerade, wie Axthiebe, zusammen 7000 Kilometer lang. 30000 Indianer hielten die
Bulldozer für Supertapire, flohen in die Wildnis oder wurden mit Geräten und Nahrungsmitteln befriedigt. Der
letzte Ansturm auf Amazonien hatte begonnen.
Und damit kehrten auch die alten Märchen und Legenden, ihre Faszination und Mystik zurück. Im April
i97~ entdeckt die FUNAI einen Stamm weißer Indianer am Oberlauf des Rio Xingu, von dem mir Tatunca Nara
schon ein Jahr zuvor berichtet hatte. Im Mai nehmen brasilianische Grenzsoldaten bei Vermessungsarbeiten am
Pico da Neblina mit von Frauen angeführten Indianern Kontakt auf. Auch von ihnen hatte Tatunca Nara
ausführlich gesprochen. Und der Höhepunkt: Im Juni 1973 werden in dem als »indianerfrei« geltenden Gebiet
von Acre mehrere Indianerstämme gesichtet. Gibt es Akakor doch? Vielleicht nicht in der Form, wie Tatunca
Nara die Stadt beschrieben hatte, aber immerhin greifbar, nicht nur als Legende. Nach einer Durchsicht der
Tonbandaufzeichnungen entschloß ich mich, seine Geschichte niederzuschreiben, »in guter Sprache, in
deutlicher Schrift«.
Das Buch - »Die Chronik von Akakor« - besteht aus fünf Teilen. Das »Buch des Jaguar« berichtet von der
Kolonisierung der Erde durch die Götter und der Zeit bis zur zweiten Weltkatastrophe. Das »Buch des Adler«
umfaßt die Zeitspanne zwischen 6ooo und 11000 mit der Ankunft
-Ö
der Goten. Das dritte Buch, das ~Buch der Ameise«, schildert die Kämpfe mit den spanischen und
portugiesischer Kolonisatoren nach ihrer Landung in Peru und Brasilien Das vierte und letzte Buch, das »Buch
der Wasser-schlange«, beschreibt die Ankunft von 2000 deutschen Sol. daten in Akakor und ihre Eingliederung in
das Volk der Ugha Mongulala und sagt eine dritte große KatastrophE voraus. In einem nachfolgenden Anhang
sind die Ergebnisse meiner Recherchen in brasilianischen und deutscher Archiven zusammengefaßt.
Der Hauptteil des Buches, die eigentliche Chronik vor Akakor, hält sich streng an den Bericht von Tatunca
Nara. Ich habe versucht, ihn so wörtlich wie möglich wiederzugeben, auch dann, wenn er der herkömmlichen
Geschichtsschreibung widerspricht oder von inzwischen bekanntgewordenen Tatsachen widerlegt scheint. Das
gilt auch für die beigefügten Karten und Zeichnungen, die nach den Angaben von Tatunca Nara erstellt sind.
Die Schrift-pro ben hat Tatunca Nara in Manaus angefertigt. Allen Unterkapiteln ist eine kurze
Zusammenfassung der herkömmlichen Geschichtsschreibung vorangestellt, um dem Leser eine
Vergleichsmöglichkeit zu bieten. Sie beschränkt sich auf die wichtigsten Ereignisse in der Geschichte La-
teinamerikas. Die Zeittafel am Schluß des Buches stellt die Daten der Chronik von Akakor denen der
herkömmlichen Geschichtsschreibung gegenüber. Auf einer weiteren gesonderten Liste sind die vermutlichen
Namen der weißen Zivilisation für die im Text erwähnten Stämme der Verbündeten und Entarteten eingetragen.
Die Zitate aus der Chronik von Akakor - im Text eingerückt - erzählte Tatunca Nara, als hätte er sie
auswendig gelernt. Nach seinen Angaben ist die eigentliche Chronik -von Akakor auf Holz, Fellen und später
auch auf Pergament niedergeschrieben. Sie wird von den Priestern im
T0
Tempel der Sonne aufbewahrt, als größtes Vermächtnis der Ugha Mongulala. Nur der Bischof M. Grotti hat sie
mit eigenen Augen gesehen und mehrere Auszüge an sich genommen. Seit seinem rätselhaften Tod sind die
Dokumente spurlos verschwunden. Tatunca Nara vermutet, daß sie von dem Bischof an einer geheimen Stelle
versteckt worden sind oder in den Archiven des Vatikans aufbewahrt werden.
Alle Informationen in der Einführung und im Anhang habe ich auf ihren Wahrheitsgehalt hin streng
überprüft. Die Zitate zeitgenössischer Geschichtsschreiber stammen aus spanischen Quellen und wurden von
mir übersetzt. Eigene Überlegungen habe ich im Anhang dann angefügt, wenn sie dem Leser das Verständnis
erleichtern. Deshalb ist auch die Polemik über Astronauten oder göttliche Wesen als mögliche Vorläufer der
menschlichen Zivilisation nur am Rande erwähnt. Das Schwergewicht des Buches liegt auf dem Abriß der
Geschichte und der Kultur der Ugha Mongulala im Gegensatz zu der Geschichte und der Zivilisation der
»Weißen Barbaren«.
Existiert Akakor überhaupt? Gibt es eine geschriebene Geschichte der Ugha Mongulala? Meine eigenen
Zweifel haben mich veranlaßt, das Buch in zwei klar getrennte Teile aufzugliedern. In der »Chronik von
Akakor« habe ich nur den Bericht von Tatunca Nara wiedergegeben. Der Anhang enthält, was ich aus
entsprechenden Hilfsquellen weiß. Und es ist wenig, verglichen mit der Geschichte eines geheimnisvollen
Volkes, mit Altvätern, göttlichen Gesetzen, unterirdischen Wohnstätten und allem. Es ist eine Geschichte, die
einer Legende entsprungen sein könnte und doch Stück für Stück von der Wirklichkeit eingeholt und bestätigt
wird. Und der Leser muß selbst entscheiden zwischen einem ausgeklügelten Bericht, basierend auf den
Lücken einer unzulänglichen Geschichtsschreibung, und einem Stück wirklicher Geschichte,
niedergeschrieben in guter Sprache, in deutlicher Schrift.
Rio de Janeiro, 8.5.1975
Karl Brugger
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