Ein Bayer in Südtirol

von links: Franz, Wolfi, Toni, Paul und Günter


 

"Ecco il suo scontrino". Die anderen Insassen des Speisewagens, der gerade über den Brenner nach Süden fuhr, verstanden nicht recht, was mich an dieser Bemerkung so erheiterte. Über ein Jahr war ich nicht in Italien gewesen, und der Satz versetzte mich in nostalgische Verzückung. Meine Seligkeit war komplett, als die Kassiererin auf meinen 50.000 Lire-Schein nicht herausgeben konnte. Nur wer Woody Allens Antisemitismus versteht, kann erahnen, welches Verhältnis mich mit Italien verbindet, einem Land, in dem der Kassenzettel wichtiger ist als das Wechselgeld.


Haflinger aus dem Norden und Gitsch aus dem extremen Süden ItaliensAuf dem Rückweg ins Abteil ein weiteres Glückserlebnis: Ich sichtete eine echte Südtiroler Gitsch (1), mit wilder Mähne in original Haflinger-Farbe und absolut kammresistent, die Hüften leicht überbreit, damit die Proportion zum Kiefer wieder passte, dessen biblische Ausmaße deutlich machten, was wirklich die gefährlichste Waffe der Frau ist. Der alberne Klingelton ihres Handys brachte mich zwar für einen Moment auf die Palme, dafür wurde ich mit einem Hörspiel auf italiolerisch belohnt. Die Sprache war perfekt und flüssig, die Grammatik zu einwandfrei um sie wahrzunehmen. Die Satzmelodie aber war deutlich entlang der Rosengartenzacken geformt und konnte nur mit Mühe an den sanften Schwung der ligurischen Küste angepasst werden. Weiche italienische Vokale tasteten sich vorsichtig durch eine Kehle, deren Schöpfer eine andere Sprache im Sinn gehabt hatte, und die Aussprache des "r" hätte gereicht, um auf einem amerikanischen Flughafen als arabischer Terrorist verdächtigt zu werden. "Allorkha dschi fediamo all'arkhifo del rrkheno"! (2)

Auch die Gitsch im Abteil gab tiefe Einblicke in die landesübliche Kultur. Zunächst war mir nicht recht klar, warum ihr Lehrbuch der italienischen Kulturgeschichte die Maske Tut-ench-Amuns auf dem Umschlag zeigte. Der Untertitel erklärte dann die Illustration und entlarvte mein Unverständnis als zutiefst unitalienisches Schachtel-Denken: Schließlich waren die Kulturen Ägyptens und Griechenlands nichts weiter als Vorläufer der grandiosen italienischen Kulturleistungen, welche wiederum die Basis für alles bildeten, was als schwacher Abklatsch noch folgen sollte.

Auf einer früheren Zugfahrt, auf der gleichen Strecke, hatte ich mich Südtirol als Land und als Thema etwas ernster genähert. Im Abteil saßen damals eine junge indische Geschäftsfrau, ein Südtiroler Student auf Wochenendheimfahrt von der Uni Innsbruck und ich. Als die junge Frau sagte, sie sei auf der Durchreise, musste der Student, nennen wir ihn Max, ihr unbedingt vorhalten, was sie alles versäumte, wenn sie nicht in diesem Paradies verweilte. Und so schwärmte er ihr von den Bergen vor, von der unberührten Natur, der bodenständigen Gesellschaft mit intakten Sozialstrukturen, und ich lästerte natürlich dazwischen. So sehr ich Max auch recht gab, ich musste das Bild ergänzen mit Bemerkungen über Subventions-Wahnsinn, Jugendselbstmorde, Drogenkonsum und ähnliches. Auch die Ethnik-Frage kam nicht zu kurz. Getrennte Sportvereine oder die leidige Asymmetrie bei den Kenntnissen der jeweils anderen Sprache konnten die Inderin jedoch nicht beeindrucken. Ihr Entsetzen über die grauenhaften Anschläge in ihrem Land, bei denen wenige Tage zuvor ein Zug samt Insassen in Brand gesteckt worden war, entlarvten alle Toponomastik- Debatten als irrelevant. Bevor wir ausstiegen, nahm ihr Max noch das Versprechen ab, den nächsten Urlaub hier zu verbringen; bei aller Kritik von innen und außen sei Südtirol doch der schönste Fleck auf Gottes weiter Erde. Dem konnte auch ich nur zustimmen.

Amy Fall und Ndeye PendaAber zurück in die Gegenwart. In Bozen schubste ich meine Schwägerin samt ihrer Tochter aus dem Zug, obwohl auf dem Bahnsteig kein Bekannter zu sehen war. Das, obwohl wir Aminatas Ankunft mit genau diesem Zug zu genau dieser Zeit seit Tagen angekündigt hatten. Nicht wie sie selbst bei ihrer Ankunft aus Senegal, wo sie sagte, sie käme am Dienstag um halb acht Uhr früh, und dabei meinte sie, sie flöge Dienstag abend ab, um Mittwoch früh anzukommen. Was wir nicht gleich mitbekamen, weil der Anschlussflug Brüssel-Stuttgart am Dienstag Morgen ohnehin wegen Konkurs der Sabena ausfiel. Und als wir das endlich verstanden hatten, half uns das auch nichts, weil unser verehrter Präsident Maitre Abdoulaye WadePresident Wade(mehr zu dieser Lichtgestalt in einem früheren Kapitel dieser Saga) am nächsten Tag den Luftraum über Dakar wegen einer Konferenz afrikanischer Staatschefs sperrte und der Abflug sich somit nochmals verzögerte. Als Amina dann in Stuttgart ankam, beschrieb der Zöllner den Inhalt ihres Koffers zutreffend als Fischsuppe - losgezogen war sie mit 20 kg Tiefkühlfisch auf Eiswürfeln. Zum Glück war der Beamte von Aminas 100 kg Gepäck so beeindruckt, dass er diesen undokumentierten biologischen Kampfstoff zu beschlagnahmen vergaß. Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.

WährenOsteria in Veronad also Mutter und Tochter hilflos am Bozner Bahnhof standen, fuhr ich weiter nach Verona. Von dort rief ich zuerst einmal meine Frau zu hause an, sie solle Fallou in Bozen anrufen und ihn als Retter in der Not zum Bahnhof schicken. Dazu brauchte ich erst einmal eine Telefonkarte und outete mich so als der letzte Mensch in Italien ohne Handy. Immerhin erfuhr ich dann, dass Amina und Ndeye Penda bereits gefunden worden waren und konnte mit ruhigem Gewissen meinen Rundgang durch ausgewählte Buch- und Weinläden Veronas beginnen.

Abends um halb acht war ich wieder zurück in Bozen, wo Franz etwas perplex war, als ich aus dem falschen Zug stieg. 30 Minuten und unzählige haarsträubende Kurven später saßen wir gemütlich auf dem Ritten im Mockschen Wohnzimmer und ließen uns Edelgards Abendessen schmecken. Zusammen mit Sohn Bernie diskutierten wir Möglichkeiten, an unserem frisch renovierten Haus eine Kletterwand anzubringen. Das Problem dabei sind nicht die künstlichen Griffe - mit dem richtigen (teuren) Material kann man die auch in Schokoladenpudding festdübeln - sondern die Zwischensicherungen: die müssen 3.000 Kilo halten. Alles in allem würde mich so eine Wand um die 10.000 Euro kosten, dafür kann ich die ganze Familie ein Leben lang in den Klettergarten schicken.

Am nächsten Tag auf dem Gerardo-Sega Klettersteig hatte ich ohnehin Gelegenheit, meine Kletter-Ambitionen zu überdenken. Der Weg  fängt recht harmlos mit einer zehn Meter langen Leiter an, die einen halbwegs eine senkrechte Wand hochbringt. Die durchquert man dann auf einem 20 cm breiten Steig, krampfhaft an ein dünnes Stahlseil geklammert. Der weitere Weg ist reines Genussklettern, mit dem besonderen Reiz der Berge im Trentino, die zum großen Teil niedriger als die Baumgrenze sind. Man genießt das farbenprächtige Schauspiel an den Bergflanken, wo die Laubwälder in der noch kräftigen Altweibersommersonne in allen Gelb- und Rottönen zu brennen scheinen. Zwischen technisch interessanten Kletterpassagen wandert man immer wieder durch den Wald, dessen vielfarbiges Laubdach aus dem Sonnenlicht ein märchenhaftes Farb- und Schattenspiel zaubert.

Beim Abendessen kamen wir auf Toni zu sprechen (der fröhliche Mensch auf dem Foto oben, in der Mitte), der im Winter zuvor auf grausame Weise gestorben war. In einer Lawine hatte er sich den Skistock durch den Leib gestoßen. Er lebte noch, als man in ausgrub, starb aber kurze Zeit später im Trienter Krankenhaus. In Innsbruck waren beide Herz-Lungen-Maschinen belegt gewesen, in Bozen war die Maschine frei, aber kein Personal da, deshalb wurde Toni bis nach Trient geflogen, vergeblich. Es wäre Toni sicher nicht recht gewesen, uns hier traurig zu sehen. So verdrückten wir still eine Träne und gedachten seines Talents zum Erzählen ebenso haarsträubender wie wahrer Begebenheiten aus seinem Leben.  Während Toni bescheiden-verschmitzt in sich hineinlächelte, hielten sich die Zuhörer oft die Bäuche vor Lachen, mit Ausnahme des Professors (ein Mensch, der glaubt, die Lektüre einer Tonne Bücher befähige ihn zum Theaterkritiker), der mit schockiertem Schweigen den wehmütigen Erinnerungen an das Bordell in Meran lauschte, 50 Lire im Erdgeschoss für die einfachen Leute, 100 Lire im ersten Stock für die besseren Herren. Auch tragische Geschichten waren dabei: sein erster Arbeitgeber hatte Toni um zwei Jahre seines Lebens betrogen, indem er ihn nie zur Sozialversicherung angemeldet hatte. Heraus kam das erst, als Toni Rente beantragen wollte und ihm die Beitragsjahre fehlten. Als einziger Nichtakademiker in unserer kleinen Gruppe hatte er seine größte Freude an den après-alpinen Debatten beim Schwarzsiehler oder ähnlichen Hochaltären Südtiroler Buschen-Kultur (3). Wenn sich der Bankdirektor, Gerald der Controller, Franz der Kardiologe Wolfi und der Buchhalter Günter warmgetrunken hatten und hitzig z.B. über die utilitaristischen Aspekte monotheistischer Religion in einem säkularen Umfeld diskutierten, genoss Toni, der Alkohol nie anrührte, das Schauspiel aus den Kulissen, während der Professor wieder einmal in stillem Leid diese Zurschaustellung trunkener Albernheit über sich ergehen ließ.

Etwas später am Abend kündigte Franz ein Telefongespräch an, was mich schon stutzig machte. Franz ist nicht gerade ein großer Schwätzer und wenn er jemanden anruft, macht er kein Aufhebens darum. Aber diesmal wollte er mich offenbar auf etwas vorbereiten. "Ich ruf jetzt den Carlo an", murmelte er und fügte leicht verlegen hinzu: "das ist ein Italiener, der jetzt öfter mit uns in die Berge geht". Ich traf Carlo am nächsten Morgen bei der Kohlerner Seilbahn. Er war zwar tatsächlich Italiener, passte sich aber aufs harmonischste in die Gruppe ein - er sprach den ganzen Tag keine drei Worte, abgesehen von einem gelegentlichen “ma che böööllo!” (7), Pflichtantwort auf das tirolerische “na schiiiian!” (8), das man ausrufen muss, wenn man um eine Felsecke biegt und von der Schönheit der Landschaft, die sich vor einem auftut, überwältigt ist. In Momenten der Ekstase kann man das steigern zu: “na schaug wia schiiian!” (11) (Antwort: “che böööllo – ma veramente!”) (12). Nach einem solchem Gefühlsüberschwang beruhigt sich der Tiroler mit der mantrahaften Aufzählung der Namen aller Berge in Sichtweite, die für den Flachlandtiroler alle gleich aussehen - spätestens beim dritten Namen komme ich draus. "Zemm sigsch wunderbar an Adamello, Greizschbizz, der midn schian Ferner is da Dschewedale, danemm Orddler und Königschbizz, und hindn der schiane is de Weißkugel" (13) - ich kann sie nicht auseinanderhalten und Erklärungen der Art: "der mit den schianen Gipfelaufbau" helfen mir auch nicht weiter.

Am Abend ging ich noch Proviant für die nächsten Wochen besorgen. Mit Franz Metroausweis (14) bewaffnet kaufte ich 30 Kilo Barilla-Nudeln, 15 Packungen Lavazza-Kaffee , 5 Kilo Keschtn (15), 20 Pakete Schüttelbrot und dazu noch dies und das. Soll keiner sagen, nur Senegalesen reisen mit großem Gepäck!

November 2001
Günter Eckert

(1) Gitsch (südtirolerisch): junges Mädchen (zumindest jünger als der Mann, der den Ausdruck benutzt; allgemein akzeptierte Obergrenze 30 Jahre). [zurück]

(2) Allora ci vediamo all'arrivo del treno (italienisch): Wir sehen uns dann am Bahnhof. [zurück]

(3) Buschn: Tiroler Institution, bei der ein Bauer zu bestimmten Jahreszeiten auf seinem Hof ein Lokal betreiben darf, in dem er überwiegend eigene Erzeugnisse feilbietet, meist Rotwein, Weißwein, Würstl mit Kraut, Wein (rot oder weiß), Ziager (4), Portugieser (5), Graukas (6), noch mancherlei andere leckere Spezialitäten - und natürlich Wein! [zurück]

(4) Ziager: etwas strenger Käse, nicht aus Ziegenmilch, wie der Name suggeriert, vielmehr ein Käse, der lange gezogen hat. Wird gerne mit rohen Zwiebelringen, Essig und Öl angemacht. [zurück]

(5) Portugieser: Rotwein aus einer Traubensorte, die ursprünglich aus Portugal kommt. [zurück]

(6) Graukas: Käsespezialität, die je nach Reifegrad in drei verschiedenen Geschwindigkeiten kriecht. Serviervorschlag: s.o. bei  “Ziager”, (4) . [zurück]

(7) Ma che bello! (italienisch): Wie schön! [zurück]

(8) Na schian! (tirolerisch): in Schriftdeutsch (9): Nein, schön! [zurück]

(9) Schriftdeutsch: Was Österreicher jeglicher Nationalität für Hochdeutsch halten (10) [zurück]

(10) Hochdeutsch: Kunstsprache, die von niemandem niemals nicht wirklich gesprochen wurde. Am ehesten vergleichbar dem Englisch von Eliza Doolittle, ohne wahrnehmbaren regionalen oder sozialen Charakter. Wenn überhaupt, wird hochdeutsch am Goethe-Institut in Budapest gelehrt. [zurück]

(11) Na schaug wia schiiian!(tirolerisch): Nein, schau wie schön! [zurück]

(12) Che bello – ma veramente! (italienisch): Wie schön aber auch! [zurück]

(13) Zufällige Aneinanderreihung von Bergnamen, die ich einmal gehört habe. Es gibt in Wirklichkeit keinen Ort in den Alpen, Dolomiten oder Pyrenäen, von dem aus man alle diese Berge sehen könnte. Oder vielleicht doch, was wieder einmal meine Ignoranz auf diesem Gebiet unterstriche... [zurück]

(14) Metro: Supermarktkette, die offiziell nur an Wiederverkäufer verkauft, die sich zur Kontrolle dieser Einschränkung mit einer Mitgliedskarte ausweisen müssen. Die logische Folge ist eine Zweiklassengesellschaft: privilegierte Individuen haben irgendwie einen eigenen echten Metroausweis ergaunert. Angehörige der benachteiligten Unterschicht müssen sich zum Einkaufen von einem Mitglied der erstgenannten Gruppe oder von ihrem Arbeitgeber einen Ausweis leihen. Stadtlegenden zufolge wird bei jedem Vollmond einmal ein echter Wiederverkäufer gesichtet (der vermutlich etwas anliefert). [zurück]

(15) Keschtn (Schriftdeutsch: Maroni): Esskastanien. Geröstet eine Delikatesse. Werden OHNE rohe Zwiebeln gegessen! Aufgrund ihrer trocken-mehligen Konsistenz sind teilweise erstaunliche Mengen Rotwein zum Hinunterspülen erforderlich (eventuell ein Grund für ihre Beliebtheit?). [zurück]