Taiwan-Info

Geschichte der in Deutschland lebenden Taiwanesen

Shih-cheng LIEN

Es ist jetzt knapp zwei Jahre her, seit ich 1997 beim Taiwan-Verein eingetreten bin. Bei den gemeinsamen Treffen lernte ich einige ältere Landsleute kennen, die schon seit über zehn oder sogar zwanzig Jahren in Deutschland leben. Manchmal hörte ich sie von ihrer Vergangenheit erzählen. Aus Neugier stellte ich ihnen gerne Fragen und erfuhr so, daß der Verein bereits existierte, als sie hierher nach Deutschland kamen. Damals hieß er noch "Formosa-Verein", inzwischen ist er in "Taiwan-Verein" umbenannt worden. Ich wollte gern etwas mehr über die Gründung und die Geschichte dieses Vereins wissen, der ein Verein von und für die Taiwanesen ist und auf eine mittlerweile dreißigjährige Geschichte im Ausland zurückblickt.

Angesicht wenig greifbarer Informationen, die ich nur mit Mühe bekommen konnte, da nur sehr wenig brauchbare Dokumente überliefert sind, mußte ich diese kurze Geschichte auch mithilfe von Interviews mit den Mitgliedern des Vereins erstellen. Da der Großteil der Gründungsmitglieder Deutschland bereits verlassen hat und ich selbst noch nicht sehr lange Mitglied im Verein bin, kann ich deshalb nicht sehr ins Detail gehen. Es würde mich sehr freuen, wenn mein Beitrag bei den älteren Landsleuten auf Resonanz stößt, damit er ergänzt und vervollständigt werden kann.

Der "Formosa Verein in Deutschland" wurde Anfang Oktober 1971 in Frankfurt am Main ins Leben gerufen. Vor der offiziellen Gründung gab es schon einige regionale Organisationen der Taiwanesen in Deutschland. Beispielsweise wurden bereits im Frühjahr 1971 der "Taiwanesische Wohlfahrtsverein in Norddeutschland" und der "Taiwanesische Verein in Mitteldeutschland" gegründet. Zeitlich gesehen macht dies deutlich, daß ein für das gesamte Deutschland geltender taiwanesischer Verein nicht zufällig zustande kam. Die Idee wurde durch die regionalen Vereine gemeinsam vorbereitet. Die Vereine hatten übereinstimmende Ziele und Interessen, warum sollte man da nicht gemeinsam einen Verein für die Taiwanesen gründen? Diese gegenseitige Verständigung führte sodann dazu, daß der "Formosa Verein in Deutschland" und die "Formosa Association in Europe" wenige Monate später offiziell gegründet wurden.

Der heutige "Taiwan-Verein in Deutschland" ist ein in Deutschland eingetragener Verein. Jeder, der sich für Taiwan interessiert, kann Mitglied werden. Nach dem "Protokoll des Formosa-Vereins in Deutschland" von 1977: "Der Verein verfolgt das Ziel, die Beziehungen und die Freundschaft unter den Landsleuten zu fördern, damit die Mitglieder sich gegenseitig unterstützen und beispielsweise bei Schwierigkeiten im Studium und beim Lebensunterhalt Hilfe anbieten können." Man kann sich dies gut vorstellen: die Bedingungen für die vor zwanzig oder dreißig Jahren im Ausland studierenden Taiwanesen sind mit den jetzigen überhaupt nicht vergleichbar. Die Studenten kamen damals meist alleine in ein fremdes Land. Zudem war es nicht einfach, Kontakte zu anderen Landsleuten herzustellen, denn es waren nicht viele in einer Stadt. Daraufhin kam ein Verein in Form von Treffen zustande, um das gegenseitige Kennenlernen und den Austausch untereinander zu ermöglichen. Dazu muß erwähnt werden, daß sich in den 60er und 70er Jahren Taiwan im Hinblick auf die Wirtschaftslage noch in einer Nachholphase befand und eine Durchschnittsfamilie ihre im Ausland studierenden Kinder nur eingeschränkt finanziell unterstützen konnte. Es war nicht selten der Fall, daß die Studenten, nachdem sie ins Ausland gegangen waren, angesichts der hohen Flugpreise nicht einmal zu Besuch nach Taiwan zurückkonnten. Für sie war der gelegentliche Treff mit Landsleuten ein großer Trost. Manche Landsleute denken heute daran zurück. In jener Zeit war es zeit- und arbeitsaufwendig, den Mitgliedern die Termine zu den Treffen anzukündigen, weil die Kommunikation nicht so praktisch und schnell war wie heute. Trotz alledem eilten unsere Landsleute aus dem ganzen Bundesgebiet zu den Versammlungen zusammen. Darin zeigt sich, daß diese Gesellschaft für die teilnehmenden und organisierenden Mitglieder von großer Bedeutung war.

In der Anfangsphase waren die Mitglieder meist Studenten, allerdings gab es auch einige, die sich beruflich als Krankenschwester in Deutschland aufhielten. Unter den Mitgliedern waren allerdings die in der Minderheit, die hier ihren Lebensunterhalt verdienten. Um finanziell notleidenden Studenten zu helfen, gründeten sie einen Fonds zur Gewährung zinsloser Darlehen.

Im Jahr der Gründung des Vereins wurde erstmals der "Courrier des Formosans" publiziert, der als Brücke für die Kommunikation und den Dialog unter den Taiwanesen in ganz Europa dienen sollte. Anfangs waren die Taiwanesen in Belgien für die Redaktion und Produktion verantwortlich. Später übernahmen die Vereine in anderen europäischen Ländern abwechselnd diese Aufgabe. Diese Zeitschrift wird bis heute jedes Jahr herausgegeben, obwohl die Ausgaben im Laufe von knapp dreißig Jahren des öfteren entfallen sind. Sie ist jedoch zu einer wichtigen Dokumentation geworden, in der man den Spuren der Taiwanesen in Europa nachgehen kann.

Die Treffen der Landsleute dienten dem Nachrichten- und Meinungsaustausch. Was alle am meisten interessierte, waren aktuelle Nachrichten aus Taiwan. Ein Verein, der fast ausschließlich aus Intellektuellen besteht, ist im Grunde potentiell politisch. Die regelmäßigen Zusammenkünfte und Gespräche führten zu einer Intensivierung des Austausches und der Kontakte. Daher verwundert es nicht, wenn auch politische Anliegen formuliert wurden, insbesondere in jener Zeit, in der die gesellschaftliche Lage in Taiwan nicht sehr stabil war. Vor diesem Hintergrund waren die Intellektuellen motiviert, sich über Reformen Gedanken zu machen und diese Gedanken auch zu verbreiten.

Nachdem Taiwan (s. Kurze Geschichte Taiwans) 1945 von der japanischen Kolonialherrschaft befreit war, wurde es von der Kuomintang (Partei der chinesischen Nationalisten) diktatorisch regiert. Unter ihrer Herrschaft unterlagen Meinungs- und Pressefreiheit strenger Kontrolle. Für eine Demokratisierung Taiwans gab es unter der Regie der alleinregierenden Partei keinen Spielraum. In den 60er Jahren entstand auf Taiwan allmähliche eine Bewegung für die Demokratisierung des Landes. In den 70er und 80er Jahren gab es auf der Insel ständig Auseinandersetzungen mit der regierenden Partei. Die Mitglieder der taiwanesischen Vereine verfolgten mit flammender Leidenschaft, wie die Gesellschaft sich daraufhin weiter entwickelte.

In der Vereinspublikation "Courrier des Formosans" erschienen auf vielen Seiten ausführliche Berichte über die aktuellen Ereignisse und ihre Protagonisten mit tiefschürfenden Kommentaren. Sie wurde zu einem Forum, in dem die taiwanesischen Landsleute ihre politischen Anliegen vortragen konnten. Seitdem bewegten sich die taiwanesischen Vereine in die Richtung, eine Beschleunigung der Demokratisierung und die Unabhängigkeit von Festland-China eifrig zu unterstützen.

Dieser Veränderungsprozeß führte allerdings nicht dazu, die ursprünglichen Grundsätze des Vereins formell umzuschreiben. Die "Unabhängigkeit Taiwans" wurde nicht zu einem gemeinsam anzustrebenden Ziel gemacht. Hier liegt der entscheidende Unterschied zur "World United Formosans for Independence". Für die gemeinsame Arbeit des Vereins genügte es jedoch, daß sich die Mitgliederschaft des Taiwan-Vereins sehr für die Zukunft Taiwans interessierte, da die Grundvoraussetzung für den Zusammenhalt unter den Mitgliedern schon mit der ursprünglichen Zielsetzung geschaffen worden war.

In jener Zeit war die Bevölkerung der Unterdrückung durch den Diktator Chiang Kai-shek und seiner Regierung ausgesetzt, die ihr die demokratischen Rechte vorenthielten und keine Kritik tolerierten. Selbst die Taiwanesen, die außerhalb Taiwans lebten, waren nicht vor Unterdrückung geschützt. In dieser Zeit des sogenannten "Weißen Terrors" erstreckte sich die Macht und Kontrolle der Kuomintang auch über Taiwan hinaus überallhin, wo es Taiwanesen gab. Manche im Ausland studierenden Taiwanesen wurden in der sogenannten "schwarzen Liste" der Regierung geführt, weil sie sich im Ausland öffentlich zur Demokratisierung und die Unabhängigkeit Taiwans geäußert hatten. Sie wurden von der Regierung mit Haftstrafen bedroht, sollten sie in ihre Heimat zurückkehren. Darüberhinaus wurden ihre Familienangehörigen, die in Taiwan lebten, verhört. Das war die schwierige Zeit, in der der Taiwan-Verein in Deutschland politisch aktiv war. Beispielsweise nahmen die Mitglieder an Demonstrationen teil, sie trugen in der Öffentlichkeit Kritik gegen die taiwanesische Regierung vor und sie protestierten gegen die unmenschliche Vorgehensweise der Kuomintang gegen politische Aktivisten.

Hier ist zum Beispiel der "Chen Tzu-chai-Zwischenfall" aus den 70er Jahren zu nennen. Um die benötigte Kaution für die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung des Studenten Chen Tzu-chai aufzubringen, griffen viele Studenten trotz ihres spärlichen Finanzbudgets tief in die Tasche. Gleichzeitig organisierten sie zahlreiche Aktionen, um die internationale Presse auf diesen Fall aufmerksam zu machen. Sie hofften, daß die Presse Druck auf die Regierungen in Taiwan und in den USA ausüben würde, um die Auslieferung von Chen Tzu-chai nach Taiwan zu verhindern, wo er vor Gericht gestellt werden sollte. Die Aktionen führten zu einem länderübergreifenden Bündnis der taiwanesischen Organisationen auf der ganzen Welt, sei es in Amerika oder in Europa. Der spätere "Meilidao-Zwischenfall" von 1979 erweckte in den Vereinen auch in gleicher Weise große Aufmerksamkeit. Zum internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember hatten sich Oppositionelle in der südtaiwanesischen Stadt Kaohsiung zu Kundgebungen versammelt, die die Polizei gewaltsam auflöste. Viele von ihnen wurden verhaftet und vor Gericht gestellt.

Seit den 90er Jahren ist der Taiwan-Verein in Deutschland nicht mehr so aktiv wie früher. Die Organisation ist geschwächt, die Mitgliederzahl gesunken, und die Mitglieder sind nur schwer zu mobilisieren. Hierfür gibt es folgende Gründe: mit der fortschreitenden Demokratisierung und der Aufhebung des Ausnahmezustandes sind dem Verein, der fast zwanzig Jahre für das Ideal eines demokratischen und unabhängigen Taiwans gekämpft hat, die ursprünglichen Ziele weitgehend abhanden gekommen. Das Nahziel der Demokratisierung Taiwans scheint erreicht, das langfristige und Endziel der international anerkannten Unabhängigkeit ist jedoch noch nicht verwirklicht. Der Verein muß sich also die Frage stellen, welchen Weg er in Zukunft einschlagen will. Viele Mitglieder haben im Laufe der Zeit nach Beendigung ihres mehrjährigen Deutschland-Aufenthalts den Verein verlassen. Manche sind auch schon von uns gegangen. Andererseits ist es kaum gelungen, neue jüngere Mitglieder zu gewinnen, weil die nachkommenden taiwanesischen Studenten im Gegensatz zu ihrer Vorgängergeneration von vor zwanzig Jahren das gemeinsame "heilige" Ziel der Demokratisierung und Unabhängigkeit nicht mehr vor Augen haben.

In den letzten Jahren sind mit der Entwicklung des internationalen Handels viele Geschäftsleute mit ihren Familien nach Deutschland gekommen. Die taiwanesische Regierung bemüht sich ebenfalls um die Förderung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Taiwan. Infolgedessen ist es zu einer größeren Vielfalt der taiwanesischen Vereine in Deutschland gekommen. Unter den Geschäftsleuten besteht ein Bund taiwanesischer Geschäftsleute, ihre Frauen haben einen Frauenverband gegründet und die Studenten haben ihre eigenen Studentenvereine gebildet. Bei diesen vielen Organisationen, die ihre eigenen Interessen verfolgen, übt der Taiwan-Verein nicht mehr so viel Anziehungskraft auf die Taiwanesen aus. Es fehlt an Indentifikation mit diesem Verein. Die Geschäftsleute identifizieren sich mit dem "Bund taiwanesischer Geschäftsleute" und die Studenten mit ihren jeweiligen Vereinen. Das hat nur wenig damit zu tun, wie viele zu behaupten pflegen, daß die jüngere Generation politisch desinteressiert sei und sich nicht mit Taiwan identifiziere. Ich glaube vielmehr, daß in einer pluralistischen Gesellschaft jeder Einzelne für sich nach seinen Wertmaßstäben die Bindung zu einer Gruppe wählt.

Mit der Zeit ist im Verein das Taiwanesische zur Standardsprache geworden. Das war ein Hauptgrund für meinen Eintritt. Was mich überraschte, war, daß das Taiwanesische unter den Taiwanesen in Deutschland nicht ausgestorben ist. Als ich bei meinem ersten Treffen fast nur Taiwanesisch hörte, war ich voller Freude, aber ich empfand auch Bitterkeit dabei, da ich mich selbst nur unter großen Schwierigkeiten mit ihnen auf Taiwanesisch unterhalten konnte. Ähnlich wie ich, können sich heute viele junge Taiwanesen gar nicht fließend auf Taiwanesisch ausdrücken. Dies ist sicher ein aussagekräftiges Zeichen dafür, daß es ein großer politischer Fehler der Regierung in den letzten Jahren war, die taiwanesische Sprache zu unterdrücken. Dadurch ist auch das Interesse geschwunden, sich am Taiwan-Verein zu beteiligen. Aber ich will das anders sehen. Taiwanesisch als Kommunikationssprache im Verein ist gerade das, was man zu schätzen hat, insbesondere in der Gegenwart, in der Taiwanesisch immer weniger benutzt wird.

Vor etwa dreißig Jahren, als der Verein gegründet wurde, war es aus politischen Gründen nicht erlaubt, das Wort "Taiwan" oder "Taiwanese" öffentlich zu benutzen. Bei allem, was den Begriff der Nationalität betraf, mußte von der "Republik China" die Rede sein. Deshalb konnte der Verein nicht mit dem Namen "Taiwan-Verein" betitelt werden. Die damaligen Mitglieder wählten daraufhin den Namen "Formosa-Verein", um das Wort "China" zu vermeiden, zumal war "Formosa" damals im westlichen Ausland der bekannteste Ausdruck für Taiwan war. Heute hat sich die Situation sehr verändert. Taiwan ist auf der internationalen Bühne ein mit dem Staat vergleichbarer Begriff, auch wenn es nicht als unabhängiger Staat offiziell anerkannt ist. Aus diesem Grund wurde 1994 der "Formosa-Verein" in "Taiwan-Verein" umbenannt. Endlich können wir mit aller Berechtigung laut sagen, wir sind Taiwanesen!

 

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