Taiwan-Info

"SPIEGEL-Gespräch" vom 20.05.2002

 
 

  "Der härteste Stein wird weich"

 

 
   
  Taiwans Präsident Chen Shui-bian über den Rüstungswettlauf mit Peking und den bevorstehenden Führungswechsel in China

>> Chen Shui-bian regiert seit Mai 2000 Taiwan. Der Repräsentant der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) löste die Staatspartei Kuomintang ab, die seit 1949, damals unter Tschiang Kai-schek, ununterbrochen die Insel geführt hatte. Der studierte Seerechtler Chen, 51, saß als Dissidentenanwalt 1986/87 acht Monate im Gefängnis. Von 1994 bis 1998 war er Bürgermeister Taipehs. Im vorigen Dezember konnte die DPP auch im Parlament die meisten Sitze gewinnen. <<

SPIEGEL: Herr Präsident, vergangenen Freitag haben Ihre Streitkräfte Boden-Luft-Raketen eines neuen Typs getestet. Wie verträgt sich diese Schau militärischer Macht mit Ihrem Bekenntnis, Sie wollten das Verhältnis zu China verbessern?

Chen: Auch die USA streben einen konstruktiven Dialog mit China an, entwickeln aber angesichts der militärischen Expansion Pekings auch ihre Raketenabwehrsysteme. Unser Land kann sich unmöglich einem Wettrüsten stellen. Doch die Führung der Volksrepublik betonte stets, dass sie militärische Gewalt gegenüber Taiwan nicht ausschließt. Der Militäretat Chinas ist in den vergangenen zwei Jahren um durchschnittlich 17 Prozent gestiegen; Peking hat an der südchinesischen Küste über 400 Raketen stationiert. Diese Expansion hat das militärische Gleichgewicht an der Taiwan-Straße ausgehebelt. Deshalb müssen wir unsere Verteidigungsfähigkeit ausbauen. Voraussetzung für jeden Dialog mit dem Festland ist eine eigene, ausreichend starke Landesverteidigung.

SPIEGEL: Sie sind zwei Jahre im Amt, im Verhältnis zu China hat sich wenig verbessert. Ist allein Peking daran schuld?

Chen: Es gab keine Fortschritte, aber es ist auch nicht schlimmer geworden. Dass beide Seiten nicht mehr miteinander reden, liegt nicht an mir. Der Kontakt brach schon zur Amtszeit meines Vorgängers Lee Teng-hui während der Regierungszeit der Kuomintang ab. China begreift nicht die wahre Position meiner Demokratischen Fortschrittspartei, mir gegenüber ist man sogar ausgesprochen feindlich eingestellt.

SPIEGEL: Nicht ohne Grund. Vor Ihrer Wahl zum Präsidenten haben Sie sich für Taiwans Unabhängigkeit eingesetzt. Nun halten Sie sich in dieser Frage bedeckt.

Chen: Wir werden in diesem Punkt oft missverstanden. Schon vor zwei Jahren hat meine Partei beschlossen, dass Taiwan nicht Teil der Volksrepublik, sondern ein souveräner und selbständiger Staat ist. Wir stehen jedoch nach wie vor zu dem Namen "Republik China". Das könnte nur ein Volksentscheid ändern.

SPIEGEL: Peking wirft Ihnen vor, die Unabhängigkeit durch die Hintertür anzustreben. Sie wollen die Reisepässe mit dem Zusatz "ausgestellt in Taiwan" versehen. Viele Ihrer Anhänger haben soeben auf einer Kundgebung gefordert, den Staat entsprechend umzubenennen.

Chen: Wenn die Wünsche und Gefühle der 23 Millionen Taiwaner nicht den Vorstellungen Pekings entsprechen, dann hat China immer einen Vorwand gefunden, um uns etwas vorzuwerfen. Wir wollen auch nicht akzeptieren, dass in der Pekinger Verfassung Taiwan als "unverzichtbarer Teil der Volksrepublik" bezeichnet wird. Dennoch respektieren wir die Existenz dieser Verfassung und verlangen keine Änderungen. Wenn es wirklich um einen neuen Dialog und Normalisierung geht, sollten wir die fundamentalen Gegensätze erst einmal ausklammern. Ich will den Dialog mit dem Festland wieder aufnehmen.

SPIEGEL: Peking hat Taiwan eine großzügigere Regelung angeboten als Hongkong, das unter dem Motto "ein Land, zwei Systeme" 1997 wieder Teil der Volksrepublik wurde. Ihnen verspricht die Pekinger Führung weitestgehende Autonomie, außerdem könnte das vereinigte China eine neue Flagge, eine neue Nationalhymne und einen neuen Namen bekommen.

Chen: Das kommt überhaupt nicht in Frage. Nach Meinungsumfragen lehnt die große Mehrheit der Bevölkerung auch das Motto "ein Land, zwei Systeme" ab. Wir werden niemals akzeptieren, Teil der Volksrepublik zu werden. Taiwan ist nicht Hongkong, Taiwan ist nicht Macau. Es geht nicht um Großzügigkeit - unsere Bevölkerung kann das einfach nicht hinnehmen.

SPIEGEL: Wenn die Kluft so unüberbrückbar ist, wie sieht Ihre Vision von Taiwan aus?

Chen: Die meisten Landsleute wollen am Status quo festhalten, sie wollen keine fundamentalen Änderungen. Als Präsident kann ich nicht allein über die Zukunft Taiwans entscheiden. Hier haben die 23 Millionen Taiwaner das letzte Wort. Solange die Volksrepublik militärische Gewalt gegenüber Taiwan nicht ausschließt, bleiben wir bei unserem Kurs. Das heißt unter anderem: Wir werden nicht die Unabhängigkeit erklären, unseren Namen nicht ändern und keine Volksabstimmung organisieren. Das alles wird sich mit Sicherheit während meiner Amtszeit nicht ändern.

SPIEGEL: Sie senden unterschiedliche Signale aus: Einerseits plädieren Sie für Dialog, laden die Pekinger Führung zum Tee ein. Andererseits bezeichnen Sie Chinas kommenden Mann, Vizepräsident Hu Jintao, als "Mann ohne Fähigkeiten".

Chen: Da gibt es keinen Widerspruch. Mein Urteil über Herrn Hu fußt auf der Analyse seiner Vergangenheit und dem System der Kommunistischen Partei. Selbst wenn Hu Jintao zum KP-Chef aufrückt, werden andere mächtige Männer im Hintergrund die Fäden in der Hand halten. Die Volksrepublik ist keine Demokratie, wir dürfen uns nicht durch das Lächeln von Hu täuschen lassen.

SPIEGEL: Immerhin wird die KP in den nächsten Monaten einen Generationswechsel vollziehen. Erwarten Sie davon eine Wende zum Besseren?

Chen: Wir können nicht allzu optimistisch sein. Wenn Hu Jintao bereit ist, eine flexiblere, pragmatischere Haltung einzunehmen, dann werden wir mit ihm reden. Ein chinesisches Sprichwort sagt: "Auch der härteste Stein wird irgendwann weich."

SPIEGEL: Die politischen Beziehungen sind frostig, dafür floriert die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Taiwans Banken dürfen in China Filialen eröffnen. Unternehmer Ihres Landes sind große Investoren, allein in Schanghai leben und arbeiten 300.000 Ihrer Landsleute. Werden Sie durch diese Verflechtungen zur Geisel Pekings?

Chen: Der chinesische Markt ist doch nur ein Teil des Weltmarktes.

SPIEGEL: Aber wenn sich taiwanische Firmen so stark auf dem Festland engagieren, schwächt das Ihre Verhandlungsposition.

Chen: Im Gegenteil. Wir stärken unsere eigene wirtschaftliche Potenz und zugleich unseren Einfluss. Zugegeben, es hat Bemühungen der Pekinger Behörden gegeben, taiwanische Geschäftsleute unter Druck zu setzen. Peking hat sogar versucht, die Wahlen zu beeinflussen ...

SPIEGEL: ... indem es Taiwans Unternehmern mit Sanktionen drohte, wenn sie Ihre Partei unterstützten.

Chen: Die Zukunft des Landes entscheiden unsere Bürger und nicht eine Hand voll taiwanischer Geschäftsleute auf dem Festland. Wie die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zeigen, hat das alles nichts genützt. Im Übrigen haben die Kommunisten sogar versucht, ihnen gewogene Kandidaten zu unterstützen, um damit den Wahlkampf zu manipulieren.

SPIEGEL: Geld aus Peking im Wahlkampf Taiwans? Haben Sie dafür Belege?

Chen: Ja, es gibt entsprechende Hinweise.

SPIEGEL: Ein Grund für das Engagement der taiwanischen Geschäftsleute auf dem Festland ist die Schwäche der einheimischen Wirtschaft.

Chen: Die globale Krise hat auch uns schwer getroffen, doch Taiwans Grundlagen sind noch immer solide. Für die nächsten sechs Jahre haben wir ein Programm aufgelegt: Die Arbeitslosigkeit soll unter vier Prozent sinken, das Wachstum im Schnitt auf fünf Prozent steigen.

SPIEGEL: Sie wollen endlich Flug-, Post- und Schiffsverbindungen zum Festland zulassen. Wann dürfen Taiwaner von Taipeh direkt nach Schanghai oder Peking fliegen?

Chen: Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Schritt notwendig ist. Aber das wird nicht über Nacht gehen - "it takes two to tango". Solange die Politik dabei nicht ins Spiel kommt und wir uns auf unsere wirtschaftlichen Interessen beschränken, können wir uns morgen schon an einen Tisch setzen.

SPIEGEL: Glauben Sie, dass es in den nächsten zwei Jahren Direktflüge geben wird?

Chen: Ich hoffe sogar, dass ich damit nicht bis zum Ende meiner ersten Amtszeit warten muss.

SPIEGEL: Mit George W. Bush haben Sie einen Freund im Weißen Haus. Während die USA früher Taiwans Politiker mieden, um Peking nicht zu verärgern, durfte sich Ihr Verteidigungsminister in Florida mit dem Vize seines US-Kollegen treffen. Der Präsident Taiwans ist jedoch seit Jahrzehnten nicht zu einem Staatsbesuch eingeladen worden. Könnten Sie der Erste sein?

Chen: Die Unterstützung des US-Präsidenten ist für uns äußerst wichtig. Andererseits kennen wir unsere Grenzen. Auf der Durchreise nach Lateinamerika durfte ich immerhin voriges Jahr in New York und Houston Zwischenstation machen und wurde herzlich empfangen ...

SPIEGEL: ... als Transit-Passagier.

Chen: Natürlich wäre es schön, wenn ich eines Tages in Washington und auch anderswo offiziell empfangen werden würde.

SPIEGEL: Die USA haben Ihnen versprochen, Kriegsschiffe, Flugzeuge und U-Boote zu liefern.

Chen: Richtig. Aber wenn die Amerikaner uns Waffen verkaufen, wollen sie uns nicht zu einem Konflikt mit Peking ermutigen, sondern nur das militärische Gleichgewicht erhalten. Wir werden auch weiterhin wichtige Waffensysteme ersetzen, mit dem Schwerpunkt elektronische Kriegführung, einschließlich der Möglichkeit, aus der Defensive Gegenangriffe zu führen.

SPIEGEL: Für die U-Boote brauchen Sie die Baupläne aus Deutschland. Berlin wird das nie erlauben.

Chen: Wir müssen unsere U-Boot-Flotte aufrüsten, weil wir der Marine der Volksrepublik in diesem Punkt unterlegen sind. Für uns - ebenso wie für andere asiatische Anrainerstaaten - ist es wichtig, die Seewege um Taiwan offen zu halten und eine Blockade der Insel zu verhindern. Die Bush-Administration hat uns moderne U-Boote versprochen. Wir wissen nicht, ob Washington sich mit Berlin verständigen wird. Ich bin jedoch überzeugt, dass die Amerikaner zu ihrem Wort stehen.

SPIEGEL: Sie bezeichnen sich als Taiwaner, Ihre Familie aber kommt aus der Festlandsprovinz Fujian. Würden Sie gern das Dorf Ihrer Vorfahren besuchen?

Chen: Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Die Pekinger Führung hat Angst vor einem Besuch von mir.

SPIEGEL: Wieso denn das?

Chen: Da müssen Sie schon Parteichef Jiang Zemin fragen.

SPIEGEL: Herr Präsident, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Martin Doerry, Andreas Lorenz und Stefan Simons.

   
 
     
     
 

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