Taiwan-Info

"ZEIT-Interview" vom 15.11.2001

 
 

  "Taiwan - Modell für alle Chinesen"

 

 
   
  Für Chen kommen erst die Menschenrechte und dann die wirtschaftliche Entwicklung

Von Georg Blume

DIE ZEIT: Früher haben Sie häufig von der taiwanesischen Demokratie als einem Modell für die chinesische Welt gesprochen. Heute erscheint mitten im Parlamentswahlkampf ein Buch von Ihnen, das schwere Defizite der Demokratie auf Taiwan beklagt. Hat Sie die Erfahrung im Präsidialamt ernüchtert?

Chen Shui-bian: Vor 500 Tagen erlebte Taiwan den ersten demokratischen Machtwechsel seiner Geschichte. Die Umstellungen, die seither nötig waren, haben sich nicht immer zu meiner vollen Zufriedenheit vollzogen. Trotzdem bin ich nach wie vor fest davon überzeugt, dass Taiwan ein Demokratiemodell für alle Chinesen auf der Welt ist. Taiwan hat den ersten Schritt in Richtung Demokratie getan, während China noch weit davon entfernt ist.

ZEIT: Wird China dem taiwanesischen Modell eines Tages folgen?

Chen: Das würde ich gerne den chinesischen Präsidenten Jiang Zemin fragen. Wann wird er eine direkte demokratische Wahl akzeptieren, in der die Opposition eine Chance hat, an die Macht zu kommen? Warum ist das in Taiwan möglich und in China nicht? Schon diese Fragen zeigen, wie weit wir der Volksrepublik voraus sind. Taiwan ist der Leuchtturm für die Demokratisierung Chinas.

ZEIT: Was erscheint Ihnen für die Zustände in der Volksrepublik typisch zu sein: die brutalen Verhaftungen von Mitgliedern der Falun-Gong-Sekte auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens oder die nach japanischer Popmusik tanzende Jugend in Shanghai?

Chen: Die Zustände in der Volksrepublik lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Aber die Jugendlichen in Shanghai sind sicher nicht typisch für das Land. Es mangelt in der Volksrepublik auf vielen Gebieten an Freiheit, und Falun Gong ist nicht die einzige Religion, die in China verfolgt wird.

ZEIT: Bevor Sie ein Aktivist der Demokratiebewegung und später Bürgermeister von Taipeh wurden, erhielten Sie als Sohn armer Bauern eine konservative chinesische Schulerziehung. Sind bei Ihnen konfuzianische und demokratische Werte je in Konflikt gekommen?

Chen: Ich bin in Taiwan in einer pluralistischen, vielfältigen Kultur aufgewachsen. Taiwan ist eine See-Nation und zugleich eine Pionier-Gesellschaft, die das Ergebnis zahlreicher kultureller Transplantationen ist. Wir haben in den vergangenen 400 Jahren Invasionen der westlichen Kolonialmächte, die Kolonialherrschaft der Japaner und das autoritäre Nachkriegsregime der Kuomintang erlebt. Da hat das Christentum wesentlich zum unbeugsamen Charakter der Demokratiebewegung beigetragen. Im Ergebnis halten sich die Einflüsse von Konfuzianismus und Christentum in Taiwan die Waage. Dagegen ist China eine kontinentale Nation mit einer ganz anderen Kultur. Kontinentale Kulturen tendieren zur Ausgrenzung, See-Kulturen zur Toleranz. In diesem Sinne leben wir nicht mehr in einer rein chinesischen Kultur, sondern in einer einzigartigen taiwanesischen Kultur.

ZEIT: Erscheinen Ihnen die Pekinger Führer eher als Konfuzianer oder als Kommunisten?

Chen: Ich halte sie für Kommunisten, die vom Konfuzianismus nur wenig beeinflusst sind. Der Konfuzianismus betont Nachsicht und Vergebung, während die Volksrepublik gegenüber Taiwan die Gewalt betont.

ZEIT: Seit Beginn der neunziger Jahre haben sich die marktwirtschaftlichen Reformen in China enorm beschleunigt. Hat der chinesische Premierminister Zhu Rongji womöglich mehr getan als der Dissident Wei Jingsheng, der viele Jahre in Haft verbrachte?

Chen: Es ist schwer, die Bedeutung von kreativen demokratischen Gedanken und wirtschaftlicher Entwicklung zu vergleichen. Aber für mich stehen die Werte der Demokratie, der Freiheit und der Menschenrechte über den Werten wirtschaftlicher Entwicklung. Materieller Wohlstand kann nicht Sinn menschlicher Existenz sein.

ZEIT: Wollen Sie der Nelson Mandela Asiens sein?

Chen: Ost und West sind unterschiedliche Hemisphären. Aber die Werte von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten sind universal, und wir sollten sie nicht je nach Kultur anders interpretieren. Wo es also universale Werte gibt, darf es keine asiatischen Werte geben. Die Ablehnung universeller Werte im Namen asiatischer Werte ist nur ein Trick, der einigen Herrschern zum Machterhalt dient.

ZEIT: Einige der Herrscher, von denen Sie gerade sprechen, sind heute Teil der von den Vereinigten Staaten geführten Antiterrorkoalition. Vor dreißig Jahren wurde Taiwan von einer Koalition der Vereinigten Staaten, Chinas und Pakistans, die damals gegen die Sowjetunion gebildet wurde, in die Isolation gedrängt. Fürchten Sie eine Wiederholung?

Chen: Noch ist Taiwan kein Opfer der neuen politischen Lage. Der heutige Krieg richtet sich nicht gegen die USA, sondern gegen die freie Welt. Insofern nimmt Taiwan teil. Aber wir haben Sorgen, dass Taiwan im Zuge der amerikanisch-chinesischen Zusammenarbeit zu einer Karte im Verhandlungsspiel wird. Peking hat uns bereits auf eine Stufe mit den so genannten Separatisten in der westchinesischen Provinz Xinjiang gestellt, die sie mit Terroristen gleichsetzt. Allerdings hat Präsident Bush deutlich gemacht, dass die Interessen Taiwans der Zusammenarbeit zwischen Washington und Peking nicht zum Opfer fallen werden.

ZEIT: Vor dem 11. September fürchteten viele einen Kalten Krieg zwischen China und den USA. Besteht die Gefahr heute noch?

Chen: Die USA und China werde nie ohne einander auskommen können, egal ob man sie als "strategische Partner" oder "Rivalen" bezeichnet. Was aber Taiwan betrifft, müssen wir auf unsere eigenen Kräfte setzen. Nur wenn wir Selbstständigkeit demonstrieren, werden wir vom Rest der Welt respektiert und unterstützt werden.

ZEIT: Taiwan kauft modernste Waffen von den USA, Washington verlagert das Schwergewicht seiner Militärstrategie von Europa nach Asien, und Pekings Militärhaushalt wächst seit Jahren mit zweistelligen Prozentraten. Ist ein pazifischer Rüstungswettlauf im Gange?

Chen: China betont immer noch die Möglichkeit der Anwendung von Gewalt gegen Taiwan. Es hat nicht nur seinen Militärhaushalt erhöht, sondern die Raketenstationierung an seiner Küste forciert. Das bedroht sowohl Taiwan als auch die Stabilität in der ganzen Region. Wir haben kein Interesse an einem Rüstungswettlauf, aber wir müssen unsere Selbstverteidigung sichern. Unsere Waffenkäufe sind nichts anderes als ein Versicherungsschutz.

ZEIT: Während der Taiwan-Krise im Frühjahr 1996 tauchten amerikanische Flugzeugträger vor den Küsten Ihrer Insel auf, zuvor hatte Tokyo, nicht Taipeh auf ihre Entsendung gedrängt. Betrachten Sie Japan nach den USA als zweite Garantiemacht für die Freiheit Taiwans?

Chen: Ich will offen lassen, wer damals die Initiative für die Verlagerung der Flugzeugträger ergriff. Richtig ist, dass Japan von einer Krise in der Straße von Taiwan ebenso betroffen ist wie wir und die USA. In diesem Sinne haben wir gemeinsame Sicherheitsinteressen.

ZEIT: Sehen Sie es mit Wohlwollen, wenn Japan - wie heute Deutschland - größere militärische Verantwortung in der Welt übernimmt?

Chen: Japan spielt eine wichtige Rolle in der Region und insbesondere in der Straße von Taiwan. Die militärische Stärke und das militärische Engagement Japans werden von der japanischen Verfassung geregelt, die ich nicht kommentieren kann. Gleichwohl sehe ich, dass sich die Definition kollektiver Selbstverteidigung als Folge der jüngsten Ereignisse verändert. Nach dem 11. September hat Japan anders reagiert. Einige haben deshalb vor der Gefahr eines neuen japanischen Militarismus gewarnt. Ich aber glaube, dass Japan heute zur Wahrung des Weltfriedens und der Stabilität im Pazifik der gleichen Pflicht zur Zusammenarbeit unterliegt wie die USA und Taiwan.

ZEIT: Taiwan leidet heute wie andere Industrienationen unter einer weltweiten Rezession, während die Wirtschaft in China weiter boomt. Heißt der neue Tiger Volksrepublik China?

Chen: Für uns ist entscheidend, dass sich die chinesische und die taiwanesische Wirtschaft nicht länger gegenseitig ergänzen, sondern miteinander konkurrieren. Viele in Taiwan sprechen heute mit Sorge vom "China-Fieber". Das Fieber wird wieder abklingen. Überdies: China und Taiwan werden demnächst gemeinsam der Welthandelsorganisation beitreten.

   
 
     
     
 

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