|
Für Chen kommen
erst die Menschenrechte und dann die wirtschaftliche
Entwicklung Von
Georg Blume
DIE ZEIT: Früher
haben Sie häufig von der taiwanesischen Demokratie als
einem Modell für die chinesische Welt gesprochen. Heute
erscheint mitten im Parlamentswahlkampf ein Buch von
Ihnen, das schwere Defizite der Demokratie auf Taiwan
beklagt. Hat Sie die Erfahrung im Präsidialamt ernüchtert?
Chen Shui-bian: Vor 500 Tagen erlebte
Taiwan den ersten demokratischen Machtwechsel seiner
Geschichte. Die Umstellungen, die seither nötig waren,
haben sich nicht immer zu meiner vollen Zufriedenheit
vollzogen. Trotzdem bin ich nach wie vor fest davon überzeugt,
dass Taiwan ein Demokratiemodell für alle Chinesen auf
der Welt ist. Taiwan hat den ersten Schritt in Richtung
Demokratie getan, während China noch weit davon entfernt
ist.
ZEIT: Wird China dem taiwanesischen
Modell eines Tages folgen?
Chen: Das würde ich gerne den
chinesischen Präsidenten Jiang Zemin fragen. Wann wird
er eine direkte demokratische Wahl akzeptieren, in der
die Opposition eine Chance hat, an die Macht zu kommen?
Warum ist das in Taiwan möglich und in China nicht?
Schon diese Fragen zeigen, wie weit wir der Volksrepublik
voraus sind. Taiwan ist der Leuchtturm für die
Demokratisierung Chinas.
ZEIT: Was erscheint Ihnen für die Zustände
in der Volksrepublik typisch zu sein: die brutalen
Verhaftungen von Mitgliedern der Falun-Gong-Sekte auf dem
Pekinger Platz des Himmlischen Friedens oder die nach
japanischer Popmusik tanzende Jugend in Shanghai?
Chen: Die Zustände in der Volksrepublik
lassen sich nicht über einen Kamm scheren. Aber die
Jugendlichen in Shanghai sind sicher nicht typisch für
das Land. Es mangelt in der Volksrepublik auf vielen
Gebieten an Freiheit, und Falun Gong ist nicht die
einzige Religion, die in China verfolgt wird.
ZEIT: Bevor Sie ein Aktivist der
Demokratiebewegung und später Bürgermeister von Taipeh
wurden, erhielten Sie als Sohn armer Bauern eine
konservative chinesische Schulerziehung. Sind bei Ihnen
konfuzianische und demokratische Werte je in Konflikt
gekommen?
Chen: Ich bin in Taiwan in einer
pluralistischen, vielfältigen Kultur aufgewachsen.
Taiwan ist eine See-Nation und zugleich eine Pionier-Gesellschaft,
die das Ergebnis zahlreicher kultureller
Transplantationen ist. Wir haben in den vergangenen 400
Jahren Invasionen der westlichen Kolonialmächte, die
Kolonialherrschaft der Japaner und das autoritäre
Nachkriegsregime der Kuomintang erlebt. Da hat das
Christentum wesentlich zum unbeugsamen Charakter der
Demokratiebewegung beigetragen. Im Ergebnis halten sich
die Einflüsse von Konfuzianismus und Christentum in
Taiwan die Waage. Dagegen ist China eine kontinentale
Nation mit einer ganz anderen Kultur. Kontinentale
Kulturen tendieren zur Ausgrenzung, See-Kulturen zur
Toleranz. In diesem Sinne leben wir nicht mehr in einer
rein chinesischen Kultur, sondern in einer einzigartigen
taiwanesischen Kultur.
ZEIT: Erscheinen Ihnen die Pekinger Führer
eher als Konfuzianer oder als Kommunisten?
Chen: Ich halte sie für Kommunisten,
die vom Konfuzianismus nur wenig beeinflusst sind. Der
Konfuzianismus betont Nachsicht und Vergebung, während
die Volksrepublik gegenüber Taiwan die Gewalt betont.
ZEIT: Seit Beginn der neunziger Jahre
haben sich die marktwirtschaftlichen Reformen in China
enorm beschleunigt. Hat der chinesische Premierminister
Zhu Rongji womöglich mehr getan als der Dissident Wei
Jingsheng, der viele Jahre in Haft verbrachte?
Chen: Es ist schwer, die Bedeutung von
kreativen demokratischen Gedanken und wirtschaftlicher
Entwicklung zu vergleichen. Aber für mich stehen die
Werte der Demokratie, der Freiheit und der Menschenrechte
über den Werten wirtschaftlicher Entwicklung.
Materieller Wohlstand kann nicht Sinn menschlicher
Existenz sein.
ZEIT: Wollen Sie der Nelson Mandela
Asiens sein?
Chen: Ost und West sind unterschiedliche
Hemisphären. Aber die Werte von Demokratie, Freiheit und
Menschenrechten sind universal, und wir sollten sie nicht
je nach Kultur anders interpretieren. Wo es also
universale Werte gibt, darf es keine asiatischen Werte
geben. Die Ablehnung universeller Werte im Namen
asiatischer Werte ist nur ein Trick, der einigen
Herrschern zum Machterhalt dient.
ZEIT: Einige der Herrscher, von denen
Sie gerade sprechen, sind heute Teil der von den
Vereinigten Staaten geführten Antiterrorkoalition. Vor
dreißig Jahren wurde Taiwan von einer Koalition der
Vereinigten Staaten, Chinas und Pakistans, die damals
gegen die Sowjetunion gebildet wurde, in die Isolation
gedrängt. Fürchten Sie eine Wiederholung?
Chen: Noch ist Taiwan kein Opfer der
neuen politischen Lage. Der heutige Krieg richtet sich
nicht gegen die USA, sondern gegen die freie Welt.
Insofern nimmt Taiwan teil. Aber wir haben Sorgen, dass
Taiwan im Zuge der amerikanisch-chinesischen
Zusammenarbeit zu einer Karte im Verhandlungsspiel wird.
Peking hat uns bereits auf eine Stufe mit den so
genannten Separatisten in der westchinesischen Provinz
Xinjiang gestellt, die sie mit Terroristen gleichsetzt.
Allerdings hat Präsident Bush deutlich gemacht, dass die
Interessen Taiwans der Zusammenarbeit zwischen Washington
und Peking nicht zum Opfer fallen werden.
ZEIT: Vor dem 11. September fürchteten
viele einen Kalten Krieg zwischen China und den USA.
Besteht die Gefahr heute noch?
Chen: Die USA und China werde nie ohne
einander auskommen können, egal ob man sie als "strategische
Partner" oder "Rivalen" bezeichnet. Was
aber Taiwan betrifft, müssen wir auf unsere eigenen Kräfte
setzen. Nur wenn wir Selbstständigkeit demonstrieren,
werden wir vom Rest der Welt respektiert und unterstützt
werden.
ZEIT: Taiwan kauft modernste Waffen von
den USA, Washington verlagert das Schwergewicht seiner
Militärstrategie von Europa nach Asien, und Pekings
Militärhaushalt wächst seit Jahren mit zweistelligen
Prozentraten. Ist ein pazifischer Rüstungswettlauf im
Gange?
Chen: China betont immer noch die Möglichkeit
der Anwendung von Gewalt gegen Taiwan. Es hat nicht nur
seinen Militärhaushalt erhöht, sondern die
Raketenstationierung an seiner Küste forciert. Das
bedroht sowohl Taiwan als auch die Stabilität in der
ganzen Region. Wir haben kein Interesse an einem Rüstungswettlauf,
aber wir müssen unsere Selbstverteidigung sichern.
Unsere Waffenkäufe sind nichts anderes als ein
Versicherungsschutz.
ZEIT: Während der Taiwan-Krise im Frühjahr
1996 tauchten amerikanische Flugzeugträger vor den Küsten
Ihrer Insel auf, zuvor hatte Tokyo, nicht Taipeh auf ihre
Entsendung gedrängt. Betrachten Sie Japan nach den USA
als zweite Garantiemacht für die Freiheit Taiwans?
Chen: Ich will offen lassen, wer damals
die Initiative für die Verlagerung der Flugzeugträger
ergriff. Richtig ist, dass Japan von einer Krise in der
Straße von Taiwan ebenso betroffen ist wie wir und die
USA. In diesem Sinne haben wir gemeinsame
Sicherheitsinteressen.
ZEIT: Sehen Sie es mit Wohlwollen, wenn
Japan - wie heute Deutschland - größere militärische
Verantwortung in der Welt übernimmt?
Chen: Japan spielt eine wichtige Rolle
in der Region und insbesondere in der Straße von Taiwan.
Die militärische Stärke und das militärische
Engagement Japans werden von der japanischen Verfassung
geregelt, die ich nicht kommentieren kann. Gleichwohl
sehe ich, dass sich die Definition kollektiver
Selbstverteidigung als Folge der jüngsten Ereignisse verändert.
Nach dem 11. September hat Japan anders reagiert. Einige
haben deshalb vor der Gefahr eines neuen japanischen
Militarismus gewarnt. Ich aber glaube, dass Japan heute
zur Wahrung des Weltfriedens und der Stabilität im
Pazifik der gleichen Pflicht zur Zusammenarbeit
unterliegt wie die USA und Taiwan.
ZEIT: Taiwan leidet heute wie andere
Industrienationen unter einer weltweiten Rezession, während
die Wirtschaft in China weiter boomt. Heißt der neue
Tiger Volksrepublik China?
Chen: Für uns ist entscheidend, dass
sich die chinesische und die taiwanesische Wirtschaft
nicht länger gegenseitig ergänzen, sondern miteinander
konkurrieren. Viele in Taiwan sprechen heute mit Sorge
vom "China-Fieber". Das Fieber wird wieder
abklingen. Überdies: China und Taiwan werden demnächst
gemeinsam der Welthandelsorganisation beitreten.
|