An Wilhelm Rust.

Budapest, 7. Mai 1879.

Lieber Freund!

Sie haben neulich Ihren verdienstvollen Amtsbruder Richter durch den Tod verloren; ich erhielt von diesem traurigen Ereignis sehr spät Kunde. Da Sie dem Verblichenen im Leben näher standen, drängt es mich, Ihnen zu melden, dass mich dieser Todesfall sehr betrübte. Richter war als Künstler und Mensch seit langer Zeit für mich eine sehr sympathische Erscheinung; Leipzig, speziell der Thomanerchor und das Konservatorium, sowie die Tonkunst im allgemeinen haben an ihm viel verloren. Sie würden mich verbinden, wenn Sie seine hinterlassene Familie meiner herzlichen Teilnahme versichern wollten. Ein Sohn ist, wie mir bekannt, ein geschätzter Tonkünstler in Leipzig; existieren ausser ihm noch mehrere Familienmitglieder? Ich bitte, mir darüber Mitteilungen zu machen, wie über die letzte Lebenszeit E. Friedr. Richters.

Jetzt will ich mich mit Ihrer Person beschäftigen, und da merke ich, wie sehr ich in unsrer Korrespondenz im Rückstand gegen Sie bin: ich habe Ihnen nachträglich zu gratulieren wegen vielerlei, leider auch zu kondolieren wegen mancher schmerzlichen Erfahrung, was hiermit summarisch geschieht. Ihre anderen Mitteilungen habe ich ebenfalls mit grossem Interesse gelesen; in meinem nächsten, bald folgenden Briefe werde ich an einzelne Ihrer Nachrichten Bemerkungen knüpfen, heute gelange ich nicht mehr hierzu. Ich wollte mich in diesem Zeilen nur auf das Notwendigste beschränken und zugleich wieder einen Anfang machen zu der künftigen Korrespondenz, die hoffentlich nicht wieder ins Stocken kommen wird. Danken muss ich Ihnen aber wenigstens noch für das Freundliche, was Sie mir über meine Weihnachtsmotette sagen; es ist mir sehr angenehm, dass diese Komposition in Leipzig noch immer einen günstigen Eindruck macht, dank der vortrefflichen Aufführung. Sie wollen mich sichtlich ermuntern, dass ich mehr dergleichen komponiere; letzteres würde wahrscheinlich auch geschehen, wenn ich hier mehr Anregung für so was fände.

Sie scheinen sich in Leipzig recht glücklich zu fühlen; wohl Ihnen! Ich wünsche, dass das noch viele Jahre der Fall sein möge. Sogar über eine "entzückende" Aussicht von Ihrer Wohnung aus schreiben Sie; was kann ein Leipziger mehr verlangen? Vielleicht ist die Zeit nicht mehr zu fern, wo es mir vergönnt sein wird, diese Aussicht zu inspizieren.

Bleiben Sie im bevorstehenden Sommer in Leipzig oder reisen Sie? Wohin? Ich war in den letzten Sommern meist in Steiermark und Tirol, auch einmal in der Schweiz; im vorigen Sommer besuchte mich hier Nottebohm aus Wien, mit dem ich dann die Karpathen bereiste, leider hatten wir viel Regen, den es aber überall gab. Das gegenwärtige Jahr scheint abermals zu den nassen gehöhren zu wollen.

Ich freue mich darauf, Ihre liebe Gattin kennen zu lernen, einstweilen bitte ich dieselbe hochachtungsvoll zu grüssen. Soeben tue ich einen Eid (!!!), das ich Ihnen, sobald ich von Ihnen den nächsten Brief erhalte, sofort antworten werde, und zwar will ich die Antwort beginnen, ehe ich Ihren Brief noch ganz ausgelesen habe. Sind Sie damit zufrieden?

Mit herzlichem Gruss

Ihr
 alter Freund
  Robert Volkmann.

Budapest, den 22. Mai 1879.



vorangegangener Brief / folgender Brief
vorangegangener Brief zum Weihnachtslied

zurück zum Index