An Karl Riedel.

Pest, 22. Mai 1869.

Geehrtester Herr Professor!

Aus Ihrem Briefe und den mir freundlich übersendeten Zeitungsblättern ersehe ich zu meiner grossen Freude, dass mein "Weihnachtslied" durch Ihren Verein eine vorzügliche Aufführung erfuhr und mit derselben seine vielleicht dornenvolle Laufbahn wenigstens glänzend antrat. Es tut mir nur leid, dass ich Ihnen und Ihren Sängern mit den in dem Werke angehäften Schwierigkeiten soviel Plage verursachen musste. Um so mehr fühle ich mich verpflichtet, allen, die sich dem Studium meiner Komposition mit so grosser Liebe und Ausdauer widmeten, meinen wärmsten Dank auszudrücken. Um so grösser ist aber auch der Triumph, den die Ausführenden in diesem Tonkampf errangen; in der Tat scheint auch Publikum und Kritik die Schwierigkeit der Aufgabe gewürdigt zu haben. Wenn mich nun auch, wie schon erwähnt, der Gedanke plagt, meinen Mitmenschen durch schwere Passagen und Intonationsstellen Schmerzen bereitet zu haben, so beruhigt mich andererseits die Vorstellung, dass es einem Gesangvereine nicht schädlich ist, wenn er dann und wann seine Kräfte an besonders heikeln Aufgaben übt. Betreffs des Inslebenführens meiner Motette muss ich Ihnen aber jedenfalls führ Ihren Mut, für die Gewissenhaftigkeit und den aufreibenden Eifer, welchen Sie bei dem Einstudieren betätigten, meinen Extra-Dank aussprechen. Gar zu gern wäre ich bei der Aufführung gegenwärtig gewesen; wenn das nur immer so ginge! Sollten es die Umstände gestatten, dass ich im Juli nach Leipzig komme, so nehme ich Ihre Einladung mit Vergnügen an. Jedenfalls lassen Sie mir aber mit Ihrer Absicht, meine Weihnachtsmotette bald wieder zu Gehör zu brigen, die Genugtuung angedeihen, dass ich mit letzterer nichts Unbrauchbares geschaffen habe. Die so gelungene Leipziger Aufführung hat mir sogar von Kehlen, sie sich an mir heiser gesungen haben, ein "Hoch!" eingetragen. Ich danke nachträglich für die freundliche Gesinnung, welcher der Toast entsprang. Und grüssen Sie ja recht schön von mir Ihren Verein, meine Solisten und deren verdienstvollen Bildner, Herrn Professor Götze!

Ihrem Wunsche, ich möge etwas für geistlichen Sologesang mit Orgelbegleitung schreiben, willfahre ich gern. Es wäre mir lieb, wenn Sie mir dabei mit einigen praktischen Bemerkungen, z.B. über den zu berücksichtigenden Stimmumfang und über die Grenzen, welche die Orgel einhalten soll, an die Hand gingen. Vielleicht können Sie mir auch passende oder ganz besonders schöne Texte vorschlagen. Fürchten Sie übrigens nicht, dass ich für Gesang nur schwer ausführbare Piecen komponieren kann: zuweilen mache ich ja Stücke für hiesige Kirchen, d.h. solche, welche ohne Probe, selbst vor der ersten Aufführung, exekutiert werden.

Auch werde ich gelegentlich der Bibliothek des Allgemeinen Deutschen Musikvereins Kompositionen von mir zukommen lassen. Vor ein paar Jahren ersuchte mich Herr Oberappellationsgerichtsrat Zille in Jena für eine daselbst beabsichtigte Aufführung um Partitur und Stimmen meiner "Sappho". Ich lieh ihm das Gewünschte und bat ihn zugleich, nach dem betreffenden Konzert diese Noten (Partitur und Stimmen) der Bibliothek des A. D. Musikvereins einzuverleiben. Hoffentlich hat er es getan.

Mit herzlichem Gruss

Ihr

hochachtungsvoll ergebener

Robert Volkmann.



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